Christoph Schult, Israel 1988/89
Ich weiß noch genau, wie ich zusammen mit einer Freundin die Doppelseite mit der Weltkarte im Diercke-Schulatlas öffnete. Kontinent für Kontinent gingen wir die Liste des AFS durch und überlegten, welche Länder ich ankreuzen sollte. Für mich stand fest: Ich wollte nicht das machen, was alle machen – also kein High-School-Jahr in den USA.
Die Freundin, die mit mir im Diercke-Atlas blätterte, hatte ihr Austauschjahr in Italien verbracht, aber ich wollte weiter weg. Ich kreuzte mehrere Länder in Südamerika an und blieb dann noch bei einem weiteren Land hängen, das mich irgendwie anzog: Israel. Ich hatte damals keine Ahnung vom israelisch-palästinensischen Konflikt, ich hatte nur das Gefühl, es könnte für einen jungen Deutschen interessant sein, in dem Staat zu leben, den die Juden nach dem Holocaust gegründet hatten, um sich endlich wieder sicher zu fühlen.
Bei AFS war man offenbar froh, dass sich ein Bewerber für Israel interessierte, denn die Mitarbeiterinnen ignorierten meine Latino-Präferenzen und schickten meine Papiere direkt nach Tel Aviv.
Es war das Beste, was mir passieren konnte.
Ich landete bei einer großartigen Familie mit einem alleinerziehenden Gastvater, einer Gastschwester und einem Gastbruder. Es gab viele spezifisch israelische Momente, aber auch Herausforderungen, die in jedem anderen Land hätten passieren können: So musste ich ein Jahr mit meinem 12-jährigen Gastbruder in einem winzigen Zimmer schlafen, was damals nicht immer einfach war.
An der Schule in Tel Aviv wurde ich von meiner Klasse mit Neugier und Herzlichkeit aufgenommen. Es entstanden Freundschaften, die bis heute halten, mit einem meiner Klassenkameraden machte ich Jam-Sessions in dessen Jugendzimmer – er ist heute ein bekannter israelischer Musiker.
Die fremde Sprache war kein großes Hindernis, man lernt in dem Alter erstaunlich schnell. Schon nach drei Monaten an einer Sprachschule für Einwanderer konnte ich gut Hebräisch sprechen.
Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust spielte natürlich eine Rolle, oft aber ganz anders, als ich erwartet hatte. Natürlich traf ich Überlebende, die mich mit ihrer Auschwitz-Nummer auf dem Arm konfrontierten und mich nach meinen Eltern und Großeltern fragten. Aber es gab auch Israelis, die auf mich zuviel Rücksicht nahmen. Eine Lehrerin ließ mir zuliebe in dem Französisch-Buch immer jene Texte aus, die vom Holocaust handelten, dabei wollte ich mich doch mit der deutschen Geschichte auseinandersetzen.
Ich würde rückblickend sagen, dass es sich mehr als lohnt, sein Austauschjahr in einem Land zu verbringen, in dem Englisch nicht die Hauptsprache ist.
Erstens lernt man Englisch sowieso nebenbei, zweitens fühlt es sich gut an, etwas zu können, was nicht jeder kann. Und drittens weiß man nie, wozu es gut ist: In meinem Fall hat es meinen Berufsweg gepräg: 17 Jahre nach meinem AFS-Jahr wurde ich für den SPIEGEL Korrespondent in Jerusalem.