Ulrike Herrmann, Kenia, 1980/81
Das Austauschjahr in Kenia war für mich so wichtig wie kaum eine andere Zeit in meinem Leben. Auch weil ich erfahren musste, dass alle meine Erwartungen falsch waren. Ich hatte mir nämlich ein „Jahresurlaub im Paradies“ vorgestellt, ein Leben zwischen Elefanten und Giraffen. Tatsächlich fand ich mich in einem Vorort von Nairobi wieder.
Bald wurde mir langweilig. „Nach drei Wochen Aufenthalt war der Reiz der Exotik verschwunden. Hätten meine Eltern nicht bei vorzeitiger Rückkehr meinen Flug bezahlen müssen, und hätte ich mich nicht so geschämt – ich wäre sofort nach Deutschland zurückgeflogen.“ Dieses Eingeständnis stammt aus einem Text, den ich 1984 geschrieben habe, vier Jahre nach meiner Zeit in Kenia. AFS wollte damals wissen, wie ich mein Austauschjahr im Rückblick bewerte.
Es hat Monate gebraucht, bis ich mich in Kenia eingelebt hatte, und trotzdem schrieb ich hinterher: „Ich beneide alle, die ihr Austauschjahr noch vor sich haben!“
Die Schwierigkeiten begannen schon mit meiner weißen Hautfarbe. „Alle sahen mir immer sofort an, dass ich keine Kenianerin, sondern eine Europäerin bin, und behandelten mich wie eine Fremde, bestenfalls als Gast. Es ist nicht leicht, immer wieder zu ertragen, automatisch zum Fremdkörper zu werden.“ Viele MigrantInnen in Deutschland kennen dieses Gefühl, aber für mich wäre es abstraktes Wissen geblieben, wenn ich nicht ein Jahr in Nairobi gelebt hätte.
Und dann die Armut: „Ich stellte sie mir direkt romantisch, so richtig aufregend vor, hatte wohl noch das Märchen ‚Aschenbrödel‘ im Hinterkopf. Armut, so dachte ich, bedeutet, dass man statt Fleisch Butterbrote isst, und gegen Butterbrote hatte ich noch nie etwas gehabt. Dass aber auch Butterbrote ein Luxus sein würden, hatte ich mir nicht vorstellen können.“ Erst in Kenia lernte ich, wie es ist, fast jeden Tag Maispolenta und rote Bohnen zu essen.
Vor allem aber erfuhr ich, wie umfassend Armut den Alltag prägt. „Wer arm ist, hat wenig Freizeit. Erst als ich in Kenia jeden Samstag viele Stunden damit verbringen musste, u.a. achtzehn Bettlaken mit der Hand zu waschen, lernte ich die elektrischen Haushaltshilfen so richtig zu schätzen.“
„Wer arm ist, hat wenig Platz und damit keine Privatsphäre. Es fiel mir sehr schwer, mich daran zu gewöhnen, mit meinen fünf Geschwistern ein Zimmer, zum Teil auch das Bett teilen zu müssen, nachdem ich mein ganzes Leben ein eigenes Zimmer besessen hatte.“
Zudem war mir neu, dass ich nicht viel zu melden hatte – sondern mich fügen sollte. „Wer arm ist, kann sich seine Sicherheit nicht erkaufen. Es gibt keine Kranken- und keine Rentenversicherung. Also muss die Großfamilie das Überleben des Einzelnen sichern… Das Funktionieren der Gruppe geht vor, der Einzelne muss sich dem unterordnen, er hat der Gruppe zu dienen, seine persönlichen Wünsche sind weitgehend uninteressant. Anfangs war es für mich als „emanzipierter“, individualistischer Europäerin nicht leicht zu akzeptieren, vor allem befehlsempfangendes Gruppenmitglied zu sein.“
Ich bin oft gefragt worden, ob ich meinen Aufenthalt in Kenia bereue. Nein, nie. Ohne die Zeit in Nairobi hätte ich nie selbst erfahren, wie die meisten Menschen auf dieser Erde leben. Und ich hätte nicht gewusst, wie es sich anfühlt, fremd zu sein – und dann trotzdem anzukommen.