Yassin Musharbash, Südafrika, 1993/94
Wie wenig ich über mein Gastland wusste, das wurde mir klar, als das Flugzeug, das uns nach Südafrika bringen sollte, einige Stunden früher als erwartet landete. Wir deutschen AFS-Austauschschüler, ein gutes Dutzend, blickten aus dem Fenster und sahen: rote Erde, sattes Grün, eine Schotterpiste, ein kleines Gebäude. Das sollte Johannesburg sein, die Millionenmetropole? War es natürlich nicht. Wie sich herausstellte, hatten wir eine Zwischenlandung eingelegt, meiner Erinnerung nach in Brazzaville in der Republik Kongo. Und mich beschlich eine erste Ahnung, dass ich im Verlaufe der kommenden 10 Monate sehr viel lernen würde.
Ich kann nicht genau sagen warum, aber ich war mir sehr früh sicher, dass ich mein Auslandsjahr nicht in den USA verbringen wollte. Jedenfalls nicht, wenn es doch so viele aufregende Alternativen gab! Für einige Länder war ich damals nicht mutig genug, Japan, Indonesien oder Thailand etwa. Doch andere zogen mich an: Ich wäre gerne nach Jamaika gegangen, ich hatte Neuseeland angekreuzt. Das Schicksal (oder, wie ich vermute, eine AFS-Ehrenamtliche mit einer glücklichen Hand) erfüllte mir meinen Drittwunsch: Südafrika.
Es wurde ein sehr, sehr eindrückliches Jahr. Nicht immer einfach; aber unglaublich lehrreich. Nicht nur spaßig; aber wahnsinnig intensiv.
Ich hatte das unfassbare Glück, vom Sommer 1993 bis Sommer 1994 in Südafrika zu leben – in dem Jahr, in dem dort die ersten demokratischen Wahlen stattfanden, das alte Apartheid-System sein Ende fand, Nelson Mandela Präsident wurde und Südafrika sich als gut gelaunte und progressive „Rainbow Nation“ neu zu erfinden versuchte. Das war aufregend – und zugleich sehr, sehr anstrengend. Denn ich musste erst verstehen und dann damit umzugehen lernen, wie viele Südafrikaner durch das alte System rassistisch geprägt waren. Ich habe in Südafrika gelernt, zuzuhören. Ich begegnete weißen Polizisten, die Stützen des Apartheid-Regimes gewesen waren. Ich traf schwarze Südafrikaner, die im Untergrund gekämpft hatten. Alles im Umfeld meiner Schule, meiner Bekannten und Freunde, und manchmal auch einfach auf der Straße.
Meine Gastfamilie war eine verrückte Melange: Mein Gastvater (weiß mit englischen Wurzeln) war gut 60 Jahre alt und hatte einen Adoptivsohn in meinem Alter, mit dem ich mir ein Zimmer teilte. Wir sind auch heute, 30 Jahre später, noch enge Freunde. In unserem Haus lebten noch zwei weiße Studenten zur Untermiete, die schwarze Haushälterin Gladys, ein schwarzer Rechtsanwalt aus Swasiland. Geschichten über Geschichten. Mein Gastvater war ein komplizierter Mann, aber über Politik und Geschichte konnte ich immer mit ihm reden, das war schön.
Die Schule war absurd streng: Jeden Morgen wurde die Länge der Haare kontrolliert und ob unsere Uniform-Krawatte auch genau sieben Streifen zeigte und exakt zwei Zentimeter über dem Hosenbund endete. Es gab noch die Prügelstrafe. Und der Schulleiter war ausgerechnet: mein Gastvater! Von Beginn an war klar: Für Austauschschüler werden keine Ausnahmen gemacht, sie lernen hier mit wie alle anderen. Dafür bin ich bis heute dankbar, denn nichts hat mich schneller Freunde finden lassen als sofort Mitschüler wegen der Hausaufgaben ansprechen zu müssen.
An den Wochenenden grillte ich mit meinen Freunden und Freundinnen am Strand (ich lebte in Durban am Indischen Ozean) oder besuchte mit meinem Gastbruder und Gastvater Sportveranstaltungen der Schulmannschaften. Drei Wochen meines Schuljahres verbrachte ich auf eigenen Wunsch an drei anderen Schulen: einer Schule mit ausschließlich schwarzen Schülern (die meisten Schulen waren damals noch nicht gemischt), einer Mädchenschule und einer Elite-Schule (meine eigene war eher das Gegenteil). Dabei habe ich jedes Mal wieder neue Einblicke gewonnen. Große Empfehlung, egal wo ihr euer Jahr verbringt.
Ich kam kaum hinterher, in meinem Tagebuch meine Eindrücke festzuhalten. Und wenn ich heute darin blättere, dann spüre ich, wie reich aber auch herausfordernd mein Jahr in Südafrika war. Ich gelangte auch oft an Grenzen: wieso war dieses Land so verdammt konservativ, so irre religiös, und manchmal so wahnsinnig oberflächlich? Wieso fiel es mir so schwer, schwarze Freunde an der Schule zu gewinnen – und lag das vielleicht auch an mir, wenn ich ganz, ganz ehrlich war? Das krasse Gefälle zwischen arm und reich, zwischen privilegiert und chancenlos machte mir zu schaffen.
Aber dann waren da auch Augenblicke wie dieser, der für immer in mein Herz eingeschlossen bleiben wird: Als an meiner Schule die alte Apartheids-Flagge abgenommen und die neue Regenbogenflagge gehisst wurde. Ein letztes Mal wurde die alte Nationalhymne „De Stem“ gesungen. Und dann, zum ersten Mal, die neue Nationalhymne: „Nkosi sikelel‘ iAfrika“. Zum ersten Mal sangen die schwarzen Schülerinnen und Schüler mit – und ihre stolzen Stimmen höre ich bis heute noch so klar, als wäre ich dabei.