Es ist eine Zeitreise, die man macht, wenn man nach 39 Jahren in die ehemalige AFS-Heimat zurückkehrt, gerade wenn man, wie ich, in der Zwischenzeit den Kontakt zur Gastfamilie für zwei Jahrzehnte verloren hat. Ich lebte 1985/86 ein Jahr lang in Santiago de los Caballeros, Dominikanische Republik. Die damalige AFS-Erfahrung hat mich sehr geprägt, sodass ich bis heute im Ausland lebe und interkulturelles Lernen weiterhin ein wichtiger Lebensinhalt für mich ist.

Wiedersehen mit der Gastmutter in der Dominikanischen Republik.

Meine Gastmutter Celia war der Anker meines Austauschjahres. Geduldig brachte sie mir die ersten Brocken Spanisch bei. Oft quatschten wir zwei mit Händen und Füßen bis spät in die Nacht. Wir verreisten sogar gemeinsam und hatten wirklich eine aufmerksame, interessierte und liebevolle Mutter-Sohn-Beziehung. Ich musste sie einfach wiedersehen.
Meine Familie empfing mich mit großem Herzen und großer Neugier. Anfangs vermuteten sie wohl, dass ich unheilbar erkrankt war; warum war ich schließlich jetzt so plötzlich aufgetaucht? Ich wohnte bei meiner Mutter und meinem Bruder, der sich um Celia kümmerte. Und so saßen wir drei doch tatsächlich schon am ersten Abend genau wie vor 39 Jahren um den gleichen Esstisch und plauderten über Gott und die Welt: „Weißt du noch das und das?“ und „Was ist eigentlich aus dem und dem geworden?“ Es fiel uns allen auf, wie viel ich vergessen hatte, während sich die beiden an viele Details erinnerten.

Ich hatte meine Tagebücher von damals im Gepäck, die ich seither nicht gelesen hatte, und tauchte voll in die „Memory Lane“ ein. Nach ein paar Seiten merkte ich, dass mich die täglichen Aufzeichnungen von damals doch ziemlich langweilten. Schließlich passieren in so einem Jahr (hoffentlich) nicht die großen Tragödien, sondern die Auslandserfahrung lebt eher von den kleinen Beobachtungen, von Eigenheiten und vor allem den eigenen Interpretationen des Erlebten. War mein Jahr wirklich so langweilig gewesen: Schule, Freunde, Mädels, besoffen, Familie, ein bisschen Stunk mit Bruder, Strand, wieder besoffen, wieder Mädels etc.? Nicht gerade die charakterbildende Heldentat, an die ich mich erinnere.

Interessant wurde es, als ich meiner Familie signalisierte, dass ich ein wenig herumreisen wollte: Camping in den Bergen, ein bisschen Strand, und außerdem hatte ich den Besuch eines Permakulturhofs arrangiert. Ja, und da war es gleich wieder, das Behüten: „Wie kommst du da und dahin, wer holt dich ab, öffentliche Verkehrsmittel, bist du wahnsinnig, du wirst ausgeraubt, sei bloß vorsichtig, ruf mich von unterwegs aus an, dass alles okay ist, was? Campen? Allein? Warum?“ Ich zog mein Programm durch. Meine Familie akzeptierte es kopfschüttelnd. Und somit spürte ich doch sehr stark, dass wir ganz anders ticken.

Wiedersehen nach 39 Jahren mit der Gastfamilie in der Dominikanischen Republik.

So war es doch eine Reise voller Spannungen für mich: einerseits Integration und Wiederbelebung einer weit entfernten Vergangenheit, Eintauchen in meine innere Teenagerwelt, eine bewusste Abwendung vom Lebensstil und der Denkweise meiner Familie, Dankbarkeit für ihre Gastfreundschaft und Großherzigkeit, Erleben einer Bewegungsfreiheit und Unabhängigkeit, die ich damals 1985 nicht hatte, Entsetzen über die politische Entwicklung in Haiti und über die brutale koloniale Vergangenheit dieses gepiesackten Landes, Bekümmertheit über Rassismus und Diskriminierung sowie große Sorge über den fortschreitenden Klimawandel. Und dennoch fühlte ich mich ein bisschen zu Hause auf dieser wunderschönen Insel.

Als dann der Zeitpunkt kam, mich von Celia zu verabschieden, spürte ich sie wieder, diese unendliche Trauer von damals, als meine eigene Mutter starb. „Ist das jetzt für immer?“, sagte meine Gastschwester, als wir uns am Flughafen verabschiedeten, mit einer Träne im Auge. „Ja, kann schon sein“, dachte ich, aber mein Herz und meine Stimme sagten: „No, hermanita, para siempre? No!“
Da bringt AFS eben Menschen zusammen, die so wohl nie viel Zeit füreinander gehabt hätten. Und auch wenn sich beide Seiten der kulturellen Spannweite nach Jahrzehnten noch „den Vogel zeigen“, so sind wir doch Familie. Und keiner weiß, welche Brücken hierdurch in Zukunft noch geschlagen werden können.

 

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