Anna-Mareike, Kolumbien, weltwärts, 2023/24

Ich bin Anna-Mareike, 20 Jahre alt, und habe in der Winterausreise 2023/24 einen weltwärts-Freiwilligendienst mit AFS in Kolumbien absolviert.
Über Internetrecherche wurde ich auf Freiwilligendienste aufmerksam, und dabei insbesondere auf weltwärts und habe mich nach ausführlichen Überlegungen bei AFS beworben. Zuerst war mein Plan, nach meinem Abitur mit der Sommerausreise 2022/23 für 11 Monate nach Südafrika zu gehen, was jedoch kurzfristig aufgrund von Visa-Problemen nicht funktionierte. Daraufhin trat ich erneut mit AFS in Kontakt und entschied mich für die Winterausreise im Februar nach Kolumbien. Das klappte dann zum Glück auch reibungslos.

Wie hat sich dein Eindruck innerhalb deines Auslandsaufenthalts entwickelt?

Kolumbien ist ein wirklich wundervolles Land. Bevor ich im Zuge meines Freiwilligendienstes dorthin geflogen bin, hatte ich kaum Berührungspunkte. Mein Bauchgefühl hatte damals entschieden, dass ich meinen Auslandsaufenthalt gerne dort verbringen möchte und es war für mich persönlich die beste Entscheidung, die ich hätte treffen können. Die Schönheit und Vielfalt dieses Landes lässt sich sehr schwer in Worte fassen, sodass es der Realität auch nur im Ansatz gerecht werden könnte. Trotzdem starte ich hiermit einen Versuch. Das komplette Land oder „die Kolumbianer*innen“ im Allgemeinen zu beschreiben, ist mir natürlich vollkommen unmöglich, aber auch nicht mein Anspruch.

Entdecke Kolumbien im Freiwilligendienst mir AFS.

Kolumbien ist ein unfassbar großes Land, viel größer, als ich gedacht hatte, und hat dementsprechend auch unglaublich viele verschiedene Kulturen zu bieten, die sich regional und je nach Person unterscheiden. Ich werde also hauptsächlich von meinen persönlichen Erfahrungen in meinem „departamento“, so etwas wie ein Bundesland, namens „Boyacá“ und von meinen Eindrücken und Begegnungen auf meinen Reisen sprechen.

Vor meiner Ausreise wusste ich nicht viel über das Land. Natürlich bestand vor meiner Ankunft eine große Ungewissheit: Kolumbien…wie wird das jetzt?
Ich hatte gehört, dass die Menschen sehr offen und gastfreundlich seien und es schöne Natur gäbe. Ich wusste Bescheid über einen Nationalpark namens „Tayrona“ an der Atlantikküste und über eine bekannte Straße mit bunten Regenschirmen, die über den Köpfen der Besucher schweben. Natürlich bekam ich auch ungefragt viele Stereotypen und Vorurteile mitgeteilt, also bereits sehr wertende Meinungen, die ich hier gar nicht weiter aufführen möchte. Mich verunsicherten diese Stereotypen wenig, da ich mir mein eigenes Bild von dem Land machen wollte und sehr neugierig war. Schon vor meiner Ausreise freute ich mich darauf, nach meiner Rückkehr unglaublich viele verschiedene Geschichten und Erlebnisse erzählen zu können, die in keinster Weise mit solchen Vorurteilen verbunden sind. Und so war es dann auch.

Als meine Gasteltern mich am dritten Tag nach dem On-Arrival-Camp abholten und wir gemeinsam in die Stadt fuhren, die ich ab dem Zeitpunkt für ein Jahr mein Zuhause nennen werde, bewunderte ich bereits stauend die vorbeiziehenden Landschaften. Die Region Boyacá liegt in den Ausläufern der Anden und somit recht hoch. Das Klima erschien mir das ganze Jahr über sehr angenehm zwischen 15 und 25 Grad, trotz der 2.590 m Höhe. Mir ist sehr oft aufgefallen, wie grün alles ist. Die Berge, die Bäume, die Gräser – alles war in verschieden satte Grüntöne getaucht. Alleine daher hat mir die Region Boyacá schon sehr gut zum Leben gefallen.

Auf den verschiedenen Reisen, die wir – teils gemeinsam als AFS-Gruppe, teils ich alleine – unternommen haben, ist mir dann nach und nach bewusst geworden, wie riesig das Land ist und welche Vielfalt es zu bieten hat. Von Millionenstädten, wie Bogotá und Medellín, hin zu kleinsten Dörfern auf dem Land. Von Küsten, sogar als einziges Land Südamerikas sowohl Atlantik-, als auch Pazifikküste, über Wüsten wie dem „Desierto de Tatacoa“ oder „La Guajira“, bis hin zu Dschungellandschaften, wie dem Amazonas, verfügt Kolumbien über eine riesige Vielfalt. Kolumbien ist das Land mit der zweitgrößten Biodiversität weltweit (nur Brasilien ist artenreicher) und das kann man an wirklich vielen Orten des Landes bestaunen. Ich habe beispielsweise noch nie so viele Kolibris in freier Wildbahn gesehen wie in Kolumbien in vielen Regionen. Ich bin in dem Jahr zwar viel gereist, habe aber längst nicht alles gesehen und das war auch nie mein Anspruch. Vielmehr wollte ich wirklich die Kultur kennenlernen, die dieses schon aufgrund der Natur so besondere Land noch viel besonderer macht.

Mir sind die allermeisten Personen ausgesprochen herzlich, offen und vor allem gastfreundlich gegenübergetreten. Davon hatte ich schon vor der Ausreise gehört und ich kann es definitiv bestätigen.

Mir wurde selten so viel Gastfreundschaft und Herzlichkeit entgegengebracht wie in diesem Jahr.

Dabei hat es keinen Unterschied gemacht, ob ich die Personen bereits kannte oder gerade erst kennengelernt habe. Ich wurde oft äußerst überschwänglich dazu eingeladen, dass ich doch unbedingt mal zum Mittag- oder Abendessen vorbeikommen solle. Manches davon war, in einem Land in dem vor allem die indirekte Kommunikationsform genutzt wird, möglicherweise auch eher höflich als ernst gemeint, doch trotzdem fühlte es sich schön an.

Die meisten Menschen, die ich getroffen habe, waren sehr neugierig und interessiert daran, woher ich komme und warum ich in Kolumbien bin und ich habe mich immer gerne mit ihnen ausgetauscht. Dazu muss ich auch sagen, dass ich kaum mit negativen Reaktionen konfrontiert wurde, da Europa und insbesondere Deutschland sehr aufgewertet und, so mein Eindruck, fast schon romantisiert wird. Dabei würde vermutlich andersherum, also ein*e Kolumbianer*in, der/die in Deutschland erklärt, was seine/ihre Herkunft ist, auf sehr andere Reaktionen stoßen. An dieses Privileg, das ich aufgrund meines Geburtsortes automatisch bekommen und auch nie ablegen werde, musste ich mich im Laufe des Jahres versuchen zu gewöhnen. Ich wurde oft angeschaut, mir wurde gesagt, wie schön mein hellbraunes Haar, meine grünbraunen Augen und meine helle Haut seien und entsprach somit einem Schönheitsideal, was für die meisten Kolumbianer*innen aufgrund ihrer Genetik unmöglich zu erreichen ist. Als Reaktion auf Deutschland als mein Heimatland kamen oft Aussagen wie, dass „dort das Leben perfekt sei“ und „dass sie unbedingt auch mal gerne nach Deutschland reisen oder dort leben wollen würden“. In solchen Konversationen habe ich oft viel über mein Gegenüber gelernt. Nämlich, dass viele der Kolumbianer*innen, die ich getroffen habe, ebenso begeistert von ihrem Land und den Personen sind wie ich, jedoch derzeit eher unzufrieden mit der Politik und der Wirtschaft sind. Je mehr ich die spanische Sprache sprach und je mehr ich die Personen in meinem Umfeld kennenlernte, desto größer wurde natürlich auch das Vertrauen zwischen uns. Daher bekam ich nach einiger Zeit noch viel tiefere Einblicke in das Leben der Menschen und was sie so beschäftigt. Dabei ist mir aufgefallen – und alles andere als leicht gefallen -, dass sehr viele Personen in meinem Umfeld große finanzielle Sorgen haben und es sehr schwierig ist, finanzielle Stabilität und Sicherheit zu erlangen.

Dabei hat es oftmals keinen großen Unterschied gemacht, ob die Person gerade im Studium angefangen, dieses bereits abgeschlossen, im Arbeitsalltag eingestiegen oder bereits seit Jahren berufstätig ist. Die finanziellen Sorgen und die existenzielle Belastung betrafen in meinen Begegnungen alle Altersgruppen. Oft habe ich mitbekommen, dass Personen Pläne mit Freunden hatten, die letztendlich nicht umgesetzt wurden, da das Geld nicht ausreichte. Sie erleben, so schilderten sie es, von staatlicher Seite aus, eine nicht ausreichende ökonomische Sicherheit und Korruption in ihrem Alltag als ein leider sehr präsentes Thema. Damit möchte ich auf keinen Fall ausdrücken, dass „alle Kolumbianer*innen arm seien“, denn das entspricht absolut nicht der Realität, sondern viel mehr, dass meinem Eindruck nach, eine finanzielle Sicherheit und Stabilität sehr schwierig zu erreichen und zu halten sind und gleichzeitig die Schere zwischen arm und reich sehr groß ist. Dies empfand ich, in meiner Rolle als sehr privilegierte Europäerin, durchaus belastend.

Trotz dieser, doch sehr den Alltag bestimmenden Sorge, wurde mir oft voller Stolz erzählt, dass Kolumbien anscheinend das zweitglücklichste Land der Welt ist.
Inwiefern das stimmt, weiß ich nicht. Und trotz der belasteten finanziellen Situation vieler Menschen erlebte und genoss ich von Anfang an die Positivität und Freude der lebhaften und freundlichen Begegnungen. Es wurde immer viel gelacht, viel getanzt und viel gefeiert. Auf den bunten Straßen in der Innenstadt läuft häufig laute Musik und es wurde sich so gut wie immer Zeit für eine kurze Unterhaltung genommen, wenn man jemand Bekannten in der Stadt getroffen hat. Das war in der 130.000 Einwohner-Stadt, in der ich lebte, tatsächlich oft der Fall und hat mir immer meinen Tag erheitert.
Ich habe mich also im Laufe meines Auslandsaufenthaltes definitiv in das Land und die Leute verliebt.

Für mich war es ein sehr interessanter und schöner Prozess während dieses Jahres immer mehr Neues zu lernen, einen tieferen Einblick in die Kultur zu bekommen und im Zuge dessen, immer wieder meine eigenen Denkweisen und Prägungen zu hinterfragen.

Was war am Anfang neu und ungewohnt und am Ende „normal“?

Da gibt es ausgesprochen Vieles: Wir Menschen sind Gewohnheitstiere und das habe ich in diesem Jahr wahrscheinlich mehr gemerkt als je zuvor.
Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist wahrscheinlich, dass man in Kolumbien aufgrund der Bauweise der Toiletten und Rohre, das Toilettenpapier nicht herunterspült, sondern in einen nebenstehenden Abfalleimer wirf. Was vielleicht jetzt erstmal absurd oder unhygienisch klingen mag, und auch mir fiel die Gewöhnung am Anfang schwer, war am Ende komplett normal und automatisch. Das ging sogar so weit, dass es mir andererseits bei meiner Rückkehr nach Deutschland plötzlich eigenartig vorkam, das Toilettenpapier wieder in die Toilette zu werfen.

Busfahren im Freiwilligendienst mit AFS in Kolumbien.

Auch das Bussystem erforderte eine Eingewöhnungszeit: In der Stadt, in der ich gelebt habe, gibt es selten feste Bushaltestellen und auch keinen Busfahrplan. Die Busse sind mit einem Schild vorne an der Windschutzscheibe ausgestattet, auf dem die ungefähre Route steht. Kommt der Bus, den du nehmen möchtest, streckst du die Hand aus, winkst in heran und steigst ein. Sobald du aussteigen möchtest, sagst du „Por acá, por favor“ („Hier bitte“) und steigst aus. Das war für mich, die aus Deutschland strikte Fahrpläne und Haltestellen gewöhnt war, am Anfang überfordernd und wirkte womöglich etwas unorganisiert. Mittlerweile finde ich das System, wie es in Kolumbien gelebt wird, unfassbar praktisch und rege mich gerne darüber auf, wenn ich mal wieder zu spät dran bin für den Bus oder an meiner Destination vorbeifahre, da der Bus erst bei der nächsten Haltestelle hält. Auch dass in den kolumbianischen Bussen innerhalb der Stadt fast immer laute Musik vom Busfahrer und zusätzlich dazu von verschiedenen Fahrgästen läuft und dadurch der Geräuschpegel höher ist, vermisse ich mittlerweile in den doch sehr ruhigen Bussen hier in Deutschland.

Ein weiterer Unterschied, der mir sehr praktisch erscheint, sind die sogenannten „tiendas“. Das sind kleine, in Deutschland würde man vielleicht „Tante-Emma“ Lädchen sagen, die man an fast jeder Straßenecke finden und die nötigen Lebensmittel kaufen kann. Für speziellere oder größere Einkäufe bin ich immer in die großen Supermärkte gegangen, aber wenn ich mal etwas vergessen oder spontan frische Eier für meinen Kuchen benötigte, kamen mir diese „tiendas“ immer sehr gelegen.

Woran ich mich jedoch bis zum Ende nur schwer gewöhnte und was mich auch bis zum Schluss immer wieder überraschte, waren der Tagesablauf beziehungsweise die Morgende und Abende. Aufgrund der Nähe zum Äquator gibt es in Kolumbien keine Jahreszeiten und die Sonne scheint das ganze Jahr über zwölf Stunden lang, von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. An der Sonne orientiert sich dann auch der Tag: Die Schule beginnt oftmals schon um 06:30 Uhr und auch die Arbeit startet zwischen sechs und sieben Uhr. Auf der anderen Seite geht die Sonne dann aber auch bereits gegen 18 Uhr unter und da es nach Sonnenuntergang nicht mehr so sicher ist, alleine draußen zu sein, und es ziemlich schnell kälter wird, sind die meisten Personen bereits zuhause. Da habe ich oft das etwas längere Ausschlafen und vor allem die langen Sommerabende in Deutschland vermisst.

Hast du viel mit Gleichaltrigen unternommen?

Besonders zu Beginn hatte ich aufgrund von verschiedenen AFS-organisierten Treffen schnell Kontakt zu der vorherigen Ausreise von Freiwilligen, die dementsprechend auch in meinem Alter waren. Wir haben viel zusammen unternommen und konnten uns gut über Erfahrungen austauschen. Den Kontakt zu Locals in meinem Alter zu finden, fiel mir anfangs schwer, da ich hauptsächlich mit Personen aus meinen Projekten zu tun hatte, die oft älter waren als ich.

Zusätzlich dazu hat es, um ehrlich zu sein, einige Zeit gedauert, bis sich Freundschaften entwickeln konnten, obwohl ich eigentlich ein sehr offener und extrovertierter Mensch bin. Mir ist irgendwann aufgefallen, dass das möglicherweise auf einen kulturellen Unterschied zurückzuführen ist, der mir vorher gar nicht so bewusst war:
Über Deutsche wird oft gesagt, dass sie sehr kalt und verschlossen wirken. Gleichzeitig scheinen „die Kolumbianer“ das Gegenteil zu sein: herzlich und offen. Und auf der Smalltalk-Ebene stimme ich dem zu. Ich konnte mit vielen verschiedenen Personen wunderbar smalltalken. Wenn ich jedoch in ein etwas tiefgründigeres oder persönlicheres Gespräch einsteigen wollte, stieß ich oft auf Ablehnung. Auch beim On-Arrival-Camp wurden wir darauf hingewiesen: Oft sind Personen aus Deutschland kulturell bedingt beim Kennenlernen einer neuen Person etwas skeptischer oder distanzierter, was möglicherweise als „kalt“ herüberkommen kann. Mein Eindruck ist aber, dass, sobald man gegenseitiges Vertrauen erreicht hat, sehr ehrlich und tiefgründig mit der anderen Person reden kann.

Bei vielen Personen, die ich in Kolumbien getroffen habe, schien das umgekehrt zu sein: Der Einstieg in eine Konversation war oft sehr leicht und ich wurde direkt zu Beginn mit einer Umarmung begrüßt. Sobald es jedoch an persönlichere Themen ging, verschlossen sich die Personen mir gegenüber. Interessant fand ich dabei, dass eine kolumbianische Freundin, die bereits mit AFS in Belgien war, das Gleiche berichtet hat. Nämlich, dass auch ihr es schwer fällt, tiefgründige Freundschaften mit Kolumbianer*innen zu schließen. Den Grund für diesen Unterschied kenne ich nicht, jedoch fiel es mir dadurch tatsächlich anfangs schwer, kolumbianische Freunde zu finden, mit denen die Beziehungen über das „Smalltalk-Level“ hinausgingen.

Sobald ich aber meine eigene Deutschklasse ins Leben gerufen habe, habe ich dort meine Freundesgruppe gefunden. Die Personen dort waren zwar ebenfalls etwas älter als ich (Mitte-Ende 20), dies stellte aber kein Problem dar. Wir haben uns oft nach der Deutschklasse noch gemeinsam in eine Bar gesetzt, ein Bier getrunken und „Bolirana“ gespielt. Das ist ein, für Boyacá sehr typisches, Wurfspiel, bei dem man versucht, mit sechs kleinen Metallkugeln verschiede Löcher zu treffen, die mit jeweiligen Punkten bewertet werden. Die meisten Punkte gibt es, wenn man einen der zwei Frösche trifft (rana = Frosch). An anderen Tagen waren wir zusammen wandern oder haben ein Picknick am See gemacht. Etwas, das in Kolumbien gar nicht so typisch ist, wir aber, mitsamt tiefgründigen Gesprächen, sehr genossen haben.

Kannst du kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten benennen?

Kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es endlos viele. Natürlich sind mir in diesem Jahr unglaublich viele Unterschiede zu dem aufgefallen, was ich aus meiner Heimatregion in Deutschland gewohnt war. Was ich jedoch am womöglich Eindrucksvollsten fand, war, dass letztendlich die meisten Dinge doch gar nicht so anders sind, wie ich vielleicht vorher gedacht habe. Vieles war gleich oder ähnlich zu dem, was ich aus Deutschland kenne. Auch hat sich nach anfänglicher Aufregung, trotz anderen Landes, neuer Kultur und Sprache, nach einiger Zeit ein Alltag eingestellt, an den ich mich schnell gewöhnt habe.

Kulturelle Unterschiede sind mir Stück für Stück aufgefallen und manchmal auch erst relativ spät wirklich bewusst geworden. Einen starken Kulturschock hatte ich bei meiner Ankunft in Kolumbien jedoch nicht. Den hatte ich vielmehr, als ich wieder zurück nach Deutschland kam. Kulturelle Unterschiede sind beispielsweise in Themen wie Werten und Überzeugungen, der Kommunikation, dem familiären Zusammenleben, Geschlechterrollen, dem Stellenwert von Religion, dem Zeitkonzept und natürlich noch Vielem mehr festzustellen.

Viele meiner Mitfreiwilligen berichteten von Missverständnissen, die durch die unterschiedlichen Kommunikationsformen ausgelöst wurden: Da Deutschland ein Land ist, in dem vor allem eine sehr direkte Kommunikationsform genutzt wird, während in Kolumbien eher indirekt kommuniziert wird, kann dies manchmal herausfordernd sein. Besonders am Anfang ist mir oft aufgefallen, dass in Deutschland ein „Ja“ in der Regel ein „Ja“ und ein „Nein“ ein „Nein“ ist, währenddessen in Kolumbien ein „Ja“ auch mal ein „Nein“ und ein „Nein“ ein „Ja“ bedeuten konnte. Dabei kam es oft auf viel mehr Aspekte an, als nur das gesagte Wort: Die Art und Weise des Gesagten, Mimik, Gestik, Körpersprache, Kontext, Umfeld, usw. Trotzdem muss ich sagen, dass ich mit diesem Thema gar nicht so viele Schwierigkeiten hatte, da zum Einen meine Gastfamilie, insbesondere meine Gastmutter, eine sehr direkt kommunizierende Person ist und wir daher Missverständnisse offen besprechen konnten und zum Anderen ich selbst auch oft zu einer etwas indirekteren Kommunikationsform neige.

Dazu möchte ich nämlich sagen, dass beide Arten ihre Vor- und Nachteile haben. Kommt die indirekte Kommunikation Personen mit westeuropäischer Prägung möglicherweise „komplizierter“ und „umständlicher“ vor, so achtet sie doch sehr darauf, den/die Andere*n nicht zu verletzen. Wohingegen die direkte Kommunikation zwar möglicherweise „effizienter“ und „einfacher“ sein mag, für Personen aus z.B. Kolumbien aber schnell auch „unhöflich“ und „verletzend“ wirken kann. Das zeigt einfach, dass es in vielen kulturellen Verschiedenheiten nie ein Richtig oder Falsch geben kann, sondern sie vielmehr beidseitiges Interesse und Feingefühl erfordern.

Auch den Unterschied, dass es in Kolumbien oft sehr hierarchisch aufgebaute Familien gibt, in denen beispielsweise dem Vater oder dem Opa besonderer Respekt entgegengebracht werden sollten, da sie aufgrund ihres Alters und ihres Geschlechts hierarchisch weiter oben stehen, habe ich zwar bei anderen mitbekommen, jedoch nie selbst erlebt. In meiner Gastfamilie ist meine Gastmutter alleinerziehend und sehr emanzipiert, sodass ich mich nicht in eine hierarchische Gliederung einfügen musste, sondern als gleichgestelltes Familienmitglied angesehen und behandelt wurde.

Die Familie hat in Kolumbien generell einen sehr hohen Stellenwert. In meiner Gastfamilie wurde, wenn es die Zeit zu lies, Wert auf gemeinsame Essen und auf regelmäßige Treffen mit der Verwandtschaft gelegt. Ich habe viele Personen mit Mitte-Ende zwanzig oder Anfang dreißig kennengelernt, die bei ihren Eltern wohnen. Auch das ist etwas, was mir anfangs zwar ungewohnt vorkam, da es in Deutschland sehr typisch ist bereits nach dem Schulabschluss von Zuhause auszuziehen, ich aber einfach als Teil der Kultur akzeptiert habe.

Dieser Unterschied lässt sich auf verschiedene Gründe zurückführen: Zum einen bleiben viele Personen, wenn sie nicht eine große Universität in der Hauptstadt Bogotá besuchen, in der gleichen oder nahegelegenen Städten. Daher ist es natürlich kostentechnisch günstiger, zuhause wohnen zu bleiben.

Zum anderen kommen hier auch die Prinzipien des Individualismus und Kollektivismus zum Tragen: Während ich durch mein Leben in Deutschland eine sehr individualistische Prägung habe und daher viel Wert auf Unabhängigkeit und meine persönliche Freiheit lege, ist für viele Kolumbianer*innen aufgrund ihrer kollektivistischen Prägung das „wir“, z.B. die Familie wesentlich wichtiger. Auch hier lassen sich aber oft auch Kompromisse finden. Meine Gastfamilie hat sich beispielsweise nicht beschwert, wenn ich viel mit Freunden unternommen habe, dafür habe ich aber darauf geachtet, bei den Familientreffen dabei zu sein. Auch dazu möchte ich sagen, dass zumindest mir persönlich gerade von meiner Gastfamilie auch immer viel Verständnis entgegengebracht wurde. Ebenso wie ich versucht habe, mich so gut wie möglich an ihre Kultur anzupassen, haben sie auch verstanden, dass ich aus einem anderen kulturellen Hintergrund komme und sich daher natürlich manche unserer Ansichten oder Prinzipien unterscheiden.

Als letztes möchte ich noch auf das Zeitkonzept eingehen: Ein Stereotyp, was ich in meinem Auslandsjahr sehr oft gehört habe, ist, dass „alle Deutschen pünktlich sind“.

Gleichzeitig ist Lateinamerika dafür bekannt, dass Zeit als ein sehr flexibles Konzept gelebt und Pünktlichkeit nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme sei.

Das kann für viele Freiwillige sehr anstrengend sein und das verstehe ich auch. Da ich tendenziell aber auch eher etwas zu spät komme, kam dieser kulturelle Unterschied mir persönlich sehr entgegen und hat auch immer wieder für allgemeines Schmunzeln gesorgt, wenn „die Deutsche“ mal wieder später kam, als ihre kolumbianischen Freunde.

Das alles zeigt, dass es natürlich viele kulturelle Unterschiede zwischen zwei Ländern wie Kolumbien und Deutschland gibt und dass diese Unterschiede durchaus herausfordernd sein können. Trotzdem gibt es nicht so etwas wie „DIE kolumbianische“ oder „DIE deutsche“ Kultur, sondern Vieles hängt auch immer sehr von den einzelnen Personen oder der Situation ab, wie beispielsweise Familienstrukturen und Pünktlichkeit. Und noch dazu sind mir seit Beginn meines Freiwilligendienstes wahrscheinlich mindestens so viele Gemeinsamkeiten wie Unterschiede aufgefallen. Mir persönlich hat es sehr viel Spaß gemacht, diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten Stück für Stück herauszufinden und zu verstehen. Mich dann darüber mit anderen Personen zu unterhalten, war für mich gelebter interkultureller Austausch.

Arbeitsplatz

Welche Aufgaben hast du während deines Auslandsaufenthalts übernommen und wie wurdest du darauf vorbereitet?

Meine Arbeitssituation war, soweit ich das in unserer und auch von anderen Ausreisen mitbekommen habe, eher speziell und ist daher auf keinen Fall der Standard, denn ich hatte nicht, wie normalerweise üblich, ein oder möglicherweise auch zwei, sondern zwischenzeitlich vier Projekte und daher natürlich auch sehr viele verschiedene Aufgaben und Arbeiten.
Vor meiner Ankunft in Kolumbien wurde mir ein Projekt mit Straßenhunden in Duitama, der Stadt in der ich gewohnt habe, zugeteilt. Kurz vor meiner Ausreise änderte sich mein Projekt und ich erhielt die Information, nun in der „Ana Cecilia Niño Fundación“ arbeiten zu dürfen. Diese Stiftung setzt sich für Betroffene von Mesotheliom ein. Dies ist eine Brust- oder Lungenkrebserkrankung, ausgelöst durch eine Asbestexposition am Wohn- oder Arbeitsplatz. Während die Herstellung und Verwendung von Asbest in Deutschland bereits seit 1993 und in der EU seit 2005 verboten ist, besteht dieses Gesetz mit dem Namen „Ley Ana Cecilia Niño“ in Kolumbien erst seit 2019. Die „Ana Cecilia Niño Fundación“ hält einen sehr engen persönlichen Bezug zu Opfern dieser Krebserkrankung und setzt sich stark für die Durchsetzung des Gesetzes ein.

Während meiner Zeit in Kolumbien planten und errichteten wir ein Baumhaus namens „Villa Ana Glamping“ außerhalb der Stadt, als Rückzugsort für Erkrankte und/oder deren Familien. Dieser besondere Ort fungiert nun auch als Ausrichtungsort für Workshops über „Tiefenökologie“, also ein Leben im Einklang mit der Natur, als Meditations-Ort und zur Vermietung als „Glamping“ für ein Wochenende.

Der Projektleiter der Stiftung war gleichzeitig auch mein Gastvater und dementsprechend verbrachte ich sehr viel meiner Arbeits- und auch meiner Freizeit dort auf dem Baumhaus. Es wurde für mich zu einem sehr magischen Ort mit vielen Erinnerungen, einer Art „safe place“.

Bei meiner Ankunft wurde mir erklärt, dass ich vier Mal die Woche dort und einen Tag der Woche in einem anderen Projekt arbeiten werde, um etwas Abwechslung in meinen Alltag zu bringen.

Das zweite Projekt trägt den Namen „RADS Colombia“ und ist eine Umwelt- und Kulturorganisation, die sich besonders für eine adäquate Abfallbewirtschaftung organischen Abfalls einsetzt und regelmäßige Angebote für die Gemeinschaft organisiert.

Später kamen dann noch ein drittes und ein viertes Projekt hinzu: Zum einen wurde ich in einer weiterführenden Schule, zum anderen in der Universität von Duitama eingesetzt, um beim Englischunterricht zu unterstützen.

Wie sich daraus ablesen lässt, waren meine Aufgabenbereiche daher sehr unterschiedlich: Bei der „Ana Cecilia Niño“-Stiftung habe ich anfangs geholfen, den Ort, auf den das Baumhaus gebaut werden sollte, aufzuräumen. Das bestand dann viel aus Blätter zusammenrechen, kehren und Unkraut jäten. Danach war ich für die künstlerische Gestaltung einer Kletterwand und dem Bemalen diverser Schilder und Blumentöpfe zuständig. Auch bei den Workshops zur Tiefenökologie habe ich Stück für Stück Aufgaben übernommen, wie beispielsweise die Anleitung der Anfangsmeditation oder die Atemübungen.

Bei „RADS Colombia“ half ich im Community Garten und wurde sehr schnell zur „Social Media Beauftragten“ – der ohnehin schon sehr Instagram-aktiven Organisation – ernannt. Somit bestand meine Aufgabe, neben der gärtnerischen Arbeit, daraus, Instagram-Reels für den Account der Organisation zu schneiden und die Follower*innen in der Story auf Aktionen aufmerksam zu machen. Gemeinsam mit dem Projektleiter dieser Organisation kam uns auch die Idee, eine kostenlose, einmal pro Woche stattfindende Deutschklasse für die Gemeinschaft unter dem Namen „Kakao & Kuchen mit Anna“ ins Leben zu rufen. Für diese Deutschklassen habe ich dann jede Woche einen Kuchen nach deutschem Rezept gebacken, von Marmor-, über Zitronen- und Schokoladenkuchen, bis hin zu Russischem Zupf- und Möhrenkuchen, den wir uns dann gemeinsam, während oder nach der Deutschklasse für Anfänger, bei gemeinsamen Gespräch und Kaffee schmecken lassen haben. Das war immer ein sehr schöner und interessanter – kultureller – Austausch.

Einladung zur Deutschlasse im Freiwilligendienst in Kolumbien mit AFS.

In der weiterführenden Schule in der ich später gearbeitet habe, war ich nie alleinige Lehrerin, sondern habe immer der aktuell unterrichtenden Person zur Seite gestanden und beim Unterrichtsgeschehen unterstützt. Die Kids waren sehr neugierig, wissbegierig und interessiert an allem, was Deutschland betrifft. Alle ihre Fragen sollten sie mir dann auf Englisch stellen, was wir auch oft mit den aktuell gelernten grammatischen Strukturen verbunden haben.
An einem Samstag habe ich gemeinsam mit den Englischlehrern einen Workshop meines, auch in Deutschland ziemlich unbekannten Sportes „Korbball“ organisiert, in dem wir erst die Theorie auf Englisch erklärt und es dann in der Praxis durchgeführt haben, was den Kindern, den Lehrern und mir sehr viel Spaß gemacht hat.

In der Universität war ich, gemeinsam mit einem anderen Freiwilligen, für Conversational Clubs zuständig, zu denen meist Studirende kamen, die bereits ein gutes Englischlevel besaßen, möglicherweise aber etwas Hemmungen oder nicht den Raum hatten, um das flüssige Sprechen zu üben. In diesen Clubs hatten wir keine vorgegebenen Themen, was einerseits herausfordernd, andererseits sehr angenehm war, da wir jede Klasse mit eigenen Themen gestalten mussten und durften Manchmal sahen wir auch englische Filme an und diskutierten im Anschluss darüber. Dadurch waren diese Einheiten immer sehr vielfältig und voller Unterhaltungen.

Vorbereitet wurde ich auf diese ganzen Aufgaben kaum bis gar nicht, das Prinzip war oft eher „Learning by doing“, was ich aber auch verstehen kann. Am Anfang verfügte ich persönlich auch noch gar nicht über die ausreichend sprachlichen Fähigkeiten, um anspruchsvolle Aufgaben zu übernehmen und das war und ist auch nicht das Ziel von AFS. Es sollen ja eben keine Arbeitsplätze durch Freiwillige ersetzt werden. Mit wachsenden Sprachkenntnissen und besserer Eingewöhnung wuchsen auch meine Möglichkeiten und Ideen, mich einzubringen.

Trotz anfänglichem Respekt und innerer Aufregung ist es mir so gelungen, anfangs in „Casa Rads“ und später im Café „Monana Cacao“ eine eigene Deutschklasse ins Leben zu rufen. Dieses Projekt machte mir am Ende unglaublich viel Spaß. Ich glaube also, ich bin während dieses Jahres mit meinen Aufgaben definitiv sehr gewachsen.

Wie viele Stunden hast du etwa in der Woche gearbeitet?

Da der Projektleiter meines Hauptprojektes gleichzeitig auch mein Gastvater war und ich daher nicht immer eine strikte Trennung zwischen Projekt und Familie erlebte, ist das für mich sehr schwierig zu beantworten. Als ich alle vier Projekte gleichzeitig hatte und besonders die Deutschklasse immer vor- und auch nachbereiten musste, arbeitete ich schon 35-40 Stunden pro Woche. Als ich merkte, dass diese Anzahl an Projekten für mich zu viel ist und ich so weder den Projekten, noch meiner Gastfamilie und am wenigsten mir selbst gerecht werden konnte, stellte ich den Stundenplan etwas um und es wurde entspannter. Am Ende kam ich auf etwa 25 Stunden Arbeitszeit pro Woche.

Hast du auch mal am Wochenende gearbeitet?

Ab und zu fanden die Workshops zur Tiefenökologie der „Ana Cecilia Niño Fundación“ am Wochenende statt und an einem Samstag veranstaltete ich selbst einen Sportworkshop an der Schule. Dort findet generell auch samstags Unterricht statt, dazu wurde ich aber nie eingesetzt. Also es kam mal vor, aber selten.

Warst du während deiner Arbeitszeit ausgelastet/überfordert/unterfordert?

Die ersten beiden Monate fühlte ich mich mit der generellen Eingewöhnung, also mich neben den zwei anfänglichen Projekten auch noch an ein neues Land, eine neue Kultur, neue Sprache, neue Familie, neue Stadt, usw. zu gewöhnen, durchaus überfordert. Dieses Gefühl legte sich aber mit zunehmender Integration und besserem Sprachverständnis. Als ich dann zu meinen zwei bestehenden Projekten zwei neue dazubekommen habe, war ich mit der Arbeitszeit überlastet und überfordert. Die Aufgaben selbst waren größtenteils eher einfach. Allerdings führte die Vielzahl der Aufgaben in vier verschiedenen Projekten zu einer organisatorischen Herausforderung und letztlich zu einem eher sehr stressigen Alltag. Ich hatte kaum Zeit für meine Gastfamilie und noch viel weniger für mich selbst. Je mehr Zeit verging, desto mehr wuchs mein Selbstvertrauen. Ich lernte, meine eigene Zeiteinteilung zu planen und auch, Grenzen zu setzen. Am Ende des Jahres war ich mit den Projekten ausgelastet, aber nicht mehr überlastet. Zudem gab es in Kolumbien ab November Schulferien, im Dezember war ich selbst im Urlaub und es kamen die Weihnachtsfeiertage und im Januar war schon unser Programmende, wodurch ich in diesen Monaten viel Freizeit hatte.

Wie bist du zur Arbeit gekommen und wie viel Zeit hast du dafür benötigt?

Da Duitama eine Kleinstadt ist, ist alles in etwa 15-20 Minuten zu erreichen (außer bei Stau, da dauert es dann natürlich etwas länger). Ich wurde zu meinen Projekten oft mit dem Auto abgeholt, da das Baumhaus-Projekt mit dem Bus schwierig zu erreichen ist. Zu „Casa Rads“ und zur Schule dauerte die Busfahrt etwa 20 Minuten. Die Universität konnte ich fußläufig innerhalb von 10 Minuten erreichen und auch in meiner Freizeit war ich meistens zu Fuß unterwegs.

Gastfamilie

Was waren deine ersten Eindrücke und (wie) haben sie sich im Laufe deines Auslandsaufenthalts verändert?

Lebe im Freiwilligendienst in Kolumbien in einer Gastfamilie.

Ich habe das Jahr über bei einer Gastfamilie gewohnt, die aus meiner 42-jährigen Gastmutter, meiner 9-jährigen und meiner 12-jährigen Gastschwester besteht. Die Gastmutter ist alleinerziehend und von dem Vater der Kinder getrennt, hat aber einen neuen Freund, den ich seit Beginn als meinen Gastvater bezeichne. Seine Ehefrau Ana Cecilia Niño ist 2017 nach langem Kampf an Lungenkrebs gestorben, woraufhin dann zwei Jahre später auch das Gesetz „Ley Ana Cecilia Niño“ zum Verbot von Asbest in Kolumbien verabschiedet wurde (wie unter „Arbeitsplatz“ erklärt). Er hat eine Tochter im Alter von 10 Jahren, die für mich meine dritte Gastschwester ist. Meine Gastmutter mit ihren zwei Töchtern und mein Gastvater mit seiner Tochter wohnen aber nicht zusammen. Das hört sich womöglich kompliziert an und das ist es auch. Dass diese Situation natürlich nicht ganz einfach ist, als nicht zusammenwohnende Patchwork-Familie, dachte ich mir schon.

Mein erster Eindruck war, und das hat sich auch nicht verändert, dass es eine sehr herzliche und liebenswürdige Familie ist. Meine Gastmutter Johanna führt seit sieben Jahren ihr eigenes Restaurant namens „Valzarsa“, in das sie viel Arbeit, Mühe und Herzblut steckt. Sie redet sehr, sehr gerne und erzählte mir direkt von Beginn an täglich lange Geschichten über ihr Leben. Das führte bei mir anfangs, als ich noch kaum Spanisch verstand, durchaus zu regelmäßiger Überforderung. Sicherlich halfen mir diese Stunden aber auch sehr in meinem Lernprozess. Später, als ich dann alles verstand, waren diese Gespräche für mich auch total interessant.

Mein Gastvater Daniel ist ein ausgesprochen positiver und charismatischer Mensch, der mir von Anfang an die Wichtigkeit von guten Umarmungen und das bewusstere Wahrnehmen der Natur beibrachte. Er hatte immer ein offenes Ohr und einen Ratschlag für mich und wollte bei jeder Gelegenheit tanzen. Meine drei kleinen Gastschwestern sind alle unfassbar verschieden. Bei der Größten habe ich ziemlich schnell den Eindruck bekommen, dass wir eine sehr gute Bindung aufbauen können, während mir dies mit der kleinsten der drei schwerer fiel, da sie etwas zurückhaltender zu mir war. Die Mittlere, die Tochter meines Gastvaters, war von Beginn an ein Sonnenschein und hat mir bei jeder Gelegenheit spanische Vokabeln erklärt, von den Farben, über Buchstaben bis hin zu Tieren und verschiedensten Gegenständen. Im Verlauf meines Jahres lernte ich die Familie und auch ihre Geschichte Stück für Stück immer mehr kennen und durfte ein Teil davon werden.

Während wir uns anfangs natürlich noch komplett neu und fremd waren, haben wir nach einigen Monaten gemeinsame Filmeabende mit Snacks auf dem großen Bett veranstaltet und es uns alle
gemeinsam unter einer Decke gemütlich gemacht. In solchen Momenten fühlte ich mich immer komplett Teil der Familie.

Im Verlauf der Zeit wurden mir Dinge bewusst, die mir anfangs nicht auffielen. Dass es beispielsweise für die Töchter von Johanna schwierig ist, dass sie so viel im Restaurant arbeitet und dadurch nicht so viel Zeit mit ihren Töchtern verbringt, wie es ihr lieb wäre. Das war auch der Grund, warum die Jüngste meine Projekte nicht gut fand. Sie erlebte, dass ich viel am Arbeiten und nicht so viel zuhause war. Erst dadurch, dass ich die Familie und ihre Strukturen immer besser kennenlernte, konnte mir dieses Verhalten der Jüngsten auffallen und ich konnte mit ihr darüber sprechen.

Ich habe selbst zwei größere Geschwister, bin bei mir zuhause also die Kleinste, und dann auf einmal selbst die große Schwester von drei kleineren Schwestern zu sein, das war eine ungewohnte, aber sehr schöne Herausforderung für mich. Oft habe ich versucht, gemeinsame Aktionen mit meinen drei Gastschwestern zu unternehmen, um „Eifersüchteleien“ zu vermeiden. Das gelang mal besser, mal schlechter.

Manchmal bin ich auch mit der einen Schwester in die Shoppingmall gegangen, mit der anderen habe ich Cookies gebacken und die dritte durfte mich schminken. Es war durchaus zwischendurch herausfordernd, mir für alle drei unterschiedliche Aktionen und doch gleich viel Zeit zu nehmen, aber solche Schwesternnachmittage habe ich immer sehr genossen.

Eine komplett neue Familie so gut und so intensiv kennenzulernen, finde ich unfassbar interessant. Dabei ist mir insbesondere aufgefallen, und das habe ich überhaupt nicht erwartet, dass ich dadurch passiv auch unglaublich viel über meine eigene Familie in Deutschland gelernt habe. Meine drei Gastschwestern in gewisser Weise ein Jahr lang aufwachsen zu sehen, hat mich daran zurückerinnern lassen, wie ich aufgewachsen bin. Und zu sehen, welche Rituale und Traditionen es beispielsweise an Feiertagen in meiner Gastfamilie gibt, hat mich auch daran denken lassen, wie der Tag in meiner Familie in Deutschland abgelaufen ist. So sehr im Familiengeschehen einer anderen Familie eingeflochten zu sein, hat mir einerseits gezeigt, dass jede Familie ihre Schwierigkeiten und Herausforderungen zu meistern hat und andererseits spürte ich auch meine Dankbarkeit gegenüber meinen Eltern und Geschwistern in Deutschland.

Während ein paar meiner Mitfreiwilligen ihre Gastfamilien in diesem Jahr gewechselt haben, war ich sehr froh mit meiner Gastfamilie. Das bedeutet nicht, dass es immer einfach war oder dass ich mich nie alleine oder mit Heimweh nach Deutschland gefühlt hätte, aber ich bin überzeugt, dass diese Gefühle komplett normal sind und es in solchen Momenten, zumindest mir immer geholfen hat, mich mit meinen Mitfreiwilligen auszutauschen und über unsere Situationen zu reden, da sie oft ähnliche Erfahrungen machen oder gemacht haben.

Insgesamt bin ich sehr glücklich, in einer Gastfamilie gelebt zu haben und werde sie definitiv auch wieder besuchen gehen, wenn ich nochmal nach Kolumbien fliege.

Wie hast du das Einleben und den Abschied empfunden?

Das Einleben war definitiv nicht ganz einfach, was zu einem sehr großen Teil natürlich auch an der Sprachbarriere lag. Kommunikation ist in allen Bereichen des Lebens unfassbar wichtig, besonders aber bei zwischenmenschlichen Beziehungen. Auf einmal mit Menschen zusammenzuleben, deren Sprache du nicht verstehst und die deine Sprache nicht verstehen, ist eine Herausforderung. Definitiv.

Hinzu kam bei mir ganz lange noch das Gefühl, ein Gast zu sein und mich auch so zu verhalten. Natürlich hatte ich mein eigenes Zimmer und trotzdem war es nie so ganz „meins“, da ich ja trotzdem „nur“ Gasttochter war. Ich habe, bis zum Ende glaube ich, sehr viel Rücksicht genommen und auch zu sehr vielem „Ja“ gesagt, zu dem ich womöglich bei mir zuhause in meiner Familie in Deutschland eher mal ein Gegenwort eingelegt, die Arme verschränkt und „Nein“ gesagt hätte. Das war oder ist ein Lernprozess, der mich auch immer noch begleitet.

Ganz oft bin ich am Anfang abends todmüde ins Bett gefallen, weil mein Kopf so voll war von den ganzen neuen Eindrücken, Begegnungen und der Sprache, die ich die ganze Zeit „einfach mal so nebenbei“ gelernt habe. Gleichzeitig ist besonders dieser gesamte Anfangsprozess natürlich auch unfassbar aufregend und verrückt. Eben zu merken, dass Tag für Tag, Woche für Woche die eigene Sprache besser wird, ich die Familie besser kenne, mich Stück für Stück wohler fühle, nicht mehr immer Google Maps benutzen muss, um von „a nach b“ zu kommen, schon kleine Konversationen geführt werden können – das alles waren für mich ganz viele kleine, fast tägliche Erfolge, worauf ich natürlich auch stolz war.

Der Abschied von der Gastfamilie fällt meistens sehr schwer.

Der Abschiedstag war für mich dann dementsprechend auch ein sehr gefürchteter Tag. Hätte ich ihn überspringen können, hätte ich es wahrscheinlich getan. Mir fiel schon der Abschied in Deutschland nicht leicht, aber mich dann auf einmal – und ja, ich hatte genug Zeit zum Vorbereiten und trotzdem kam es für mich plötzlich – von Personen zu verabschieden, die mir in diesem Jahr unfassbar doll ans Herz gewachsen sind und die eine Entwicklung von mir mitbekommen haben, die Personen in Deutschland gar nicht so intensiv mitbekommen konnten, das war wirklich sehr, sehr schwer.

Von meiner Gastmutter habe ich mich in unserem Haus verabschiedet, meine drei Gastschwestern und mein Gastvater haben mich bis zum Busbahnhof begleitet. Von dort aus nahm ich dann den Bus in die Hauptstadt zum Flughafen.

Wir haben uns alle umarmt, hatten Tränen in den Augen und haben uns gesagt, dass es kein „adios“, sondern ein „hasta pronto“ (Bis bald) ist.
Seit ich wieder in Deutschland bin telefoniere ich manchmal mit meinen Gastschwestern oder schicke Audios mit meinen Gasteltern hin und her. Meine Gastfamilie meinte zu mir, dass es auch für sie nicht einfach ist, weil auch sie sich an ein Leben mit mir als Teil der Familie gewöhnt haben. Trotz der Traurigkeit, dass ich mich von meiner Gastfamilie verabschieden musste, hat mich auf der anderen Seite in Deutschland aber auch meine Familie wieder sehnsüchtig in die Arme geschlossen.
Das ist das „Problem“, was, finde ich, bei so einem Auslandsaufenthalt auftreten kann: Dass man sich plötzlich nicht mehr nur noch an einem, sondern an zwei verschiedenen Orten der Welt zuhause

Betreuung

Wie hat die Betreuung durch AFS im Gastland stattgefunden?

Nachdem wir aus Deutschland ausgereist sind, war nicht mehr AFS Deutschland, sondern in meinem Fall AFS Kolumbien für uns zuständig. AFS Kolumbien ist so aufgebaut, dass es das Hauptbüro in Bogotá, der Hauptstadt, gibt und das restliche Land in sogenannte „lokale Komitees“ unterteilt ist. Jedes dieser Komitees hat eine*n Komitee Chef*in und verschiedene Ehrenamtliche. Außerdem sollte jede*r Freiwillige eine Kontaktperson haben, mit der man sich einmal im Monat trifft und über aktuelle Entwicklungen, Geschehnisse oder Gefühle redet. Wenn es ein Problem gibt, sollte man sich damit zuerst an die Kontaktperson, dann an das lokale Komitee und erst ganz am Ende an das Hauptbüro wenden.

Meines Eindrucks nach ist das Hauptbüro in Bogotá hervorragend und die Freiwilligen aus meiner Ausreise haben ausschließlich gute Erfahrungen gemacht. Mein lokales Komitee schien mir etwas unorganisiert. Besonders am Anfang organisierte das Komitee oft Treffen mit den Freiwilligen der vorherigen Ausreise, die dementsprechend ein halbes Jahr vor mir angekommen sind. Durch diese Treffen, beispielsweise bei einem gemeinsamen Kochnachmittag oder beim Karaoke-Singen, konnten wir uns besser kennenlernen.

Oft wird vom Kontakt mit anderen deutschen Freiwilligen abgeraten, was ich persönlich absolut verstehen kann, damit man sich mehr auf das Gastland, auf die Gastkultur, auf die Leute einlässt und natürlich auch schneller die Sprache lernt. Trotzdem muss ich persönlich sagen, dass es für mich sehr hilfreich war, mich mit Personen auf Deutsch zu unterhalten, neue Erfahrungen auszutauschen und auch mal tiefgründige Gespräche zu führen. Gerade zu Beginn waren diese „Deeptalks“ mit Kolumbianer*innen aufgrund der Sprachbarriere noch nicht möglich.

Mir persönlich haben diese Treffen und der Kontakt zur vorherigen Ausreise besonders am Anfang jedenfalls sehr geholfen. Letztendlich sind es nämlich Personen, die sehr ähnliche Erfahrungen und damit verbundene Gefühle haben, wie man selbst und das stärkte mich.

Nach mehr als einem halben Jahr hat meine vorherige Komitee-Chefin ihr Ehrenamt niedergelegt und wir sind mit einem nahegelegenen Komitee vereint worden. Dieser Wechsel der Komitee-Chefin führte dann zu etwas mehr Organisation, gleichzeitig wurden daher aber auch die regelmäßigen Treffen eingestellt. Das war für mich persönlich kein Problem, da ich zu diesem Zeitpunkt auch schon mein soziales Umfeld in Duitama gefunden hatte. Ich könnte mir aber vorstellen, dass solche Treffen für neue Freiwillige ebenfalls hilfreich sein können.

Meine Kontaktperson hat mich anfangs nur sehr selten und später gar nicht mehr per WhatsApp kontaktiert. Persönlich haben wir uns nie kennengelernt. Das war für mich kein Problem, zumal ich nicht das Gefühl hatte, sie zu benötigen – zum Glück! Nach dem Komitee-Wechsel wurde mir eine neue Kontaktperson zugeteilt, mit der ich mich dann auch einmal im Monat traf und über den aktuellen Stand austauschte. Das war immer sehr nett, ich hätte es aber nicht unbedingt gebraucht.

Trotzdem war ich mit der Betreuung von AFS Kolumbien im Gastland sehr zufrieden und wusste immer, an wen ich mich bei einem Problem hätte wenden können.

An welchen Seminaren hast du teilgenommen?

Ich absolvierte, wie alle anderen auch, vor meiner Ausreise in Deutschland ein zweigeteiltes Vorbereitungsseminar von jeweils sechs Tagen, was uns auf unseren Freiwilligendienst vorbereiten sollte. Von diesem Seminar war, und bin ich auch immer noch, unglaublich begeistert und finde, dass jede:r, unabhängig eines Freiwilligendienstes, mal ein solches Seminar besuchen sollte!

Lerne internationale Freiwillige auf AFS-Camps in Kolumbien kennen.

In Kolumbien selbst fanden dann ein „On-Arrival-Camp“ bei der Ankunft, ein „Mid-stay“ nach der Hälfte und ein „End-of-stay“ am Ende des Auslandaufenthalts statt. Auch diese Seminare haben mir immer sehr gut gefallen. Einerseits waren sie inhaltlich interessant und hilfreich, da sich natürlich an den Erfahrungen im Gastland orientierten, andererseits war es aber auch immer ein Highlight, sich mit der kompletten Gruppe wiederzutreffen und Geschichten auszutauschen. Außerdem wurde nach etwa zwei Monaten mit einigen Komitees auch nochmal ein Wochenendseminar organisiert, das scheint jedoch nicht die Regel zu sein.

Etwa einen Monat nach der Rückkehr nach Deutschland gab es dann noch das letzte, das Nachbereitungsseminar. Das Ziel dabei ist es, die im Ausland gesammelten Erfahrungen zu reflektieren und Perspektiven für die Zukunft zu finden. Dieses Seminar war für mich persönlich gar nicht so einfach, da ich aufgrund der Rückkehr noch immer so aufgewühlt und voller Gefühle war. Da hätte ich mir, aufgrund der tollen Vorbereitungsseminare, mehr Unterstützung und „Auffang“ beim möglichen – und bei mir sehr stark aufgetretenen – „Reverse Culture Shock“ gewünscht.

Welche Erwartungen hattest du an AFS Deutschland und haben sich diese erfüllt?

Meine größte Erwartung an AFS Deutschland war eigentlich, dass sie mich, im Fall eines Rückkehrwunsches, schnell zurück nach Deutschland holen können. Da dieser Fall bei mir aber nicht eingetreten ist, konnten sich meine Erwartungen gar nicht erfüllen. Ich habe aber von Freunden gehört, die vorzeitig zurückgekehrt sind, dass alles sehr schnell und problemlos funktioniert hat.

Gab es Konflikte und wie bist du/deine Gastfamilie/deine Kolleg*innen damit umgegangen?

Natürlich läuft so ein ganzes Jahr im Ausland nicht reibungslos ab. Das würde es auch in Deutschland nicht. Und das ist ganz normal. Daher gibt es durchaus herausfordernde Situationen oder Konflikte.

Gestritten habe ich mich mit meiner Gastfamilie oder Personen aus meinen Projekten nie. Wenn ich oder eine andere Person jedoch gemerkt haben, dass etwas nicht ganz stimmt, dann haben wir das…*Trommelwirbel*…kommuniziert. Ich bin der Meinung, dass das auch der einzig sinnvolle Lösungsansatz ist. Das kann möglicherweise in einem lateinamerikanischen Land wie Kolumbien
durchaus etwas schwieriger sein, da die Kommunikationsart eher indirekt als direkt abläuft, um niemanden zu verletzen. Dahingegen bin ich aus Deutschland eine sehr viel direktere Kommunikation gewöhnt.

In meinem Fall haben aber sowohl meine Gastmutter, als auch mein einer Projektleiter direkt mit mir kommuniziert und wir haben uns offen und ehrlich über die vorliegende Situation ausgetauscht und eine Lösung gesucht. Das hat dann auch funktioniert. Ich musste also nie AFS zur Hilfe ziehen oder als weitere Instanz in einem Streitgespräch dabeihaben.

Sprache und Kommunikation

In welcher Sprache hast du dich in deiner Gastfamilie und während deiner Arbeit vorwiegend verständigt?

Da meine Gastfamilie kaum Englisch, sondern so gut wie nur Spanisch spricht und mein Gastvater der Projektleiter meines Hauptprojektes war, in dem ich vier Mal die Woche gearbeitet habe, habe ich direkt von Beginn den Großteil der Zeit nur spanisch gehört und gesprochen. Die Ausnahme und somit auch der Tag, an dem mein Kopf anfangs eine „Spanischpause“ hatte, waren die Mittwoche, da der Projektleiter von RADS Colombia auch Englisch spricht. Mit ihm habe ich mich dann zu Beginn immer auf Englisch verständigt.

In der Schule und der Universität war es immer ein interessanter Mix aus beiden Sprachen. Mal Spanisch, mal Englisch. Denn auch um Englisch zu unterrichten, muss man es den Lernenden ja durchaus auf ihrer Muttersprache beibringen.

Zum Ende hin habe ich nur noch Spanisch geredet und das stellte auch kein Problem mehr da. Oft war es dann sogar so, dass ich mich, wenn ich zwischen Englisch und Spanisch wählen konnte, für Spanisch entschied. Mir erschien es leichter, mich auf eine Sprache zu fokussieren und ich musste so meinen Denk- und Redefluss nicht unterbrechen.

Auch das Zusammenleben mit der Gastfamilie wurde mit wachsenden Sprachkenntnissen wesentlich einfacher. Während ich am Anfang vor allem sehr viel zuhörte und nur Verständnisfragen stellte, konnte mich die Familie natürlich auch besser kennenlernen, als ich mehr über mich erzählen konnte. Auch viele lange, tiefgründige Gespräche mit meiner Gastfamilie auf Spanisch förderten unser Vertrauen und unsere engere Bindung.

Hattest du bei deiner Ankunft ausreichend Sprachkenntnisse und wie schätzt du die Entwicklung deiner Verständigungsfähigkeit am Ende deines Auslandaufenthalts ein?

Bevor ich nach Kolumbien flog, hatte ich großen Respekt vor der Sprachbarriere. Zwar sprach ich Englisch und Französisch und hatte Latein, jedoch kein Spanisch in der Schule. Daher habe ich in der Universität meiner Heimatstadt in der „Wartezeit auf Kolumbien“ einen Spanisch A1-Kurs belegt und nebenher über Duolingo Vokabeln gelernt. Trotzdem habe ich mich ausgesprochen unvorbereitet darauf gefühlt, in einem spanisch-sprachigen Land zu leben.

Meine Sprachkenntnisse waren zu Beginn also keineswegs ausreichend. Ich habe mir darüber vorher viele Gedanken gemacht und verstehe daher auch absolut jede:n, der/die das ebenfalls vor der Ausreise tut. Trotzdem muss ich sagen: Am Ende war es halb so schlimm.

Da heißt auf keinen Fall, dass es nicht unangenehm war, in einem Land zu leben, dessen Sprache ich anfangs nicht beherrschte, aber jeden Tag brauchte. Ich habe zu Beginn viele Sachen nicht verstanden, oft in Situationen mit dem Kopf genickt, in denen ich vielleicht nicht mit dem Kopf hätte nicken sollen und viele Wörter nachgefragt. Manchmal dieselbe Vokabel auch fünf Mal. Trotzdem merkte ich sehr schnell Verbesserungen. Nach nur einer Woche verstand ich mehr, als am ersten Tag. Nach einem Monat fiel es mir leichter, als nach zwei Wochen. Ich habe gemerkt, dass ich unbeschreiblich schnell Fortschritte machte. Das alles war weit weg von perfekt, aber ich konnte immer besser meinen Alltag meistern.

Ich erinnere mich, dass ich nach etwa einem Monat den Personen, die mich gefragt habe, woher ich komme und seit wann ich in Kolumbien bin, gesagt habe, dass ich hoffentlich in etwa ein bis zwei Monaten sprachlich fließend bin. Nach etwa drei Monaten habe ich diese Aussage reflektiert und gemerkt, dass dies für mich zu hoch angesetzt war. Trotzdem wurde es in großen Schritten besser.

Ich würde sagen, dass ich nach etwa fünf Monaten ziemlich fließend Spanisch sprechen konnte, sich meine Sprachkenntnisse aber nochmals erheblich verbessert haben, als ich nach acht Monaten meinen kolumbianischen Freund kennengelernt und sehr viel Zeit mit ihm verbracht habe. Zum Ende hin habe ich mich komplett sicher in der spanischen Sprache gefühlt und wenn ich etwas nicht zum Ausdruck bringen kann, bin ich in der Lage, das Gemeinte zu umschreiben. Diese Entwicklung finde ich nach wie vor erstaunlich und es ging aus meiner Ausreise-Gruppe allen so.

Während beim englischsprachigen On-Arrival-Camp nur eine Person „ausreichende“ Spanischkenntnisse hatte, führten wir das End-of-stay-Camp komplett auf Spanisch und ausnahmslos alle konnten sich verständigen.

 

AFS Kolumbien hatte nach etwa zwei Monaten für einige von uns einen Online Sprachkurs organisiert, der mir definitiv bei grammatikalischen Regeln geholfen hat, doch das Meiste lernte ich letztendlich im tagtäglichen Kontakt mit den verschiedensten Personen.
Ich finde, Spanisch ist eine tolle Sprache und mir macht es jeden Tag Spaß, Spanisch zu sprechen. Dafür, dass ich vor der Ausreise noch so viel Respekt davor hatte, finde ich diese Entwicklung bemerkenswert.

Wie wurde von deinen Kolleg*innen und der Familie auf die ggf. nicht ganz ausreichende Sprachkompetenz reagiert?

Die meisten Personen, denen ich begegnet bin, als ich die Sprache noch nicht gut beherrschte, waren sehr verständnisvoll und haben mich motiviert. Meine Gastfamilie und besonders meine Gastschwestern haben anfangs immer sehr langsam geredet und waren ausgesprochen geduldig mit mir, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Meine Gastmutter hat immer sehr viel mit mir geredet, wovon ich zu Beginn höchstens einzelne Worte verstanden habe. Meine Strategie war dann, mir mit diesen Worten einen Kontext zu erschließen und so zu verstehen, worüber die Konversation geht. Wahrscheinlich hat meine Gastmutter gemerkt, dass ich nicht alles verstehe, hat sich aber davon nicht beirren oder in ihrem Redefluss stören lassen. Auch dafür bin ich ihr im Endeffekt dankbar, weil ich in dieser Zeit passiv sicherlich viel Vokabular gelernt habe.

Auch in meinen Projekten wurde respektiert, dass ich noch im Lernprozess war und viel Rücksicht genommen. Wenn Personen etwas Englisch sprechen konnten, haben sie mir anfangs damit geholfen und ansonsten haben wir uns mit Händen und Füßen kommuniziert. Es gab auch Begegnungen, bei denen die Personen unbeirrt weiter sehr schnelles Spanisch sprachen, obwohl ich kommunizierte, dass ich es nicht verstand. Das war aber die Seltenheit.

Vielmehr wurde ich sehr oft, und das auch direkt von Beginn, dafür gelobt, wie gut doch mein Spanisch sei. Manchmal musste ich nur „Buenas tardes“ (Guten Nachmittag) sagen und wurde für meine Sprachkenntnisse gelobt. Ich wusste zwar, dass dies übertrieben war, trotzdem fühlten sich solche Kommentare für mich immer motivierend an, weiterzumachen. Insgesamt wurde also mit sehr viel mehr Verständnis und Geduld reagiert, als ich es mir erwartet hätte.

Dennoch ist es natürlich dann ab einem gewissen Zeitpunkt auch eine sehr große Befreiung, sich komplett verständigen und ausdrücken zu können, da sich für mich erst ab diesem Punkt die Möglichkeit zur richtigen Unterhaltung und auch zum Kennenlernen der Personen aufgeboten hat. Ab dann hat es mir richtig Spaß gemacht, jeden Tag Konversationen mit den verschiedensten Menschen zu führen und das fühlte sich toll an.

Globales Lernen und Entwicklungspolitik

Was bedeutet für dich Globales Lernen?

Diese Frage eindeutig zu beantworten, finde ich gar nicht so leicht. Vieles von dem, was für mich Globales Lernen bedeutet, habe ich unter dem Punkt „Land und Leute – kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten“ bereits beschrieben. Ganz allgemein gehört für mich zu Globalem Lernen zuerst einmal seine eigene Identität und kulturelle Prägung zu verstehen und auch zu hinterfragen. Damit meine ich, zu hinterfragen, ob das, was man von Zuhause kennt, denn nur, weil man es so gewohnt ist, auch unbedingt „richtig“ sein muss; ob es überhaupt ein „richtig“ und dementsprechend auch ein „falsch“ gibt; wer das bestimmt, usw. Ich finde, gerade Menschen in Ländern des Globalen Nordens, sollten sich ihrer Rolle in der Welt unbedingt bewusst werden und sie daraufhin auch kritisch betrachten. Warum gerade Menschen aus Ländern des Globalen Nordens? Aufgrund unserer kolonialisierenden Vergangenheit und immer noch kolonialisierenden Gegenwart. Und wie kann eine einzelne Person des Globalen Nordens den (Neo-) Kolonialismus ändern? Gar nicht. Aber je mehr Menschen sich dessen bewusst sind, desto mehr können wir möglicherweise auch den Kurs hin zu einer nicht-mehr-kolonialisierenden Zukunft verändern.

Globales Lernen fängt für mich bei jeder Person selbst an. Durch meinen Freiwilligendienst in Kolumbien, einem Land des Globalen Südens, das ab dem 16. Jahrhundert von den Spaniern kolonialisiert wurde, habe ich die Möglichkeit bekommen, eine komplett neue Kultur, eine neue Sprache, ein neues Familienleben, neue Berufsfelder, neue Landschaften, neue Gewohnheiten und vor allem, und das ist mit das Wichtigste, neue Begegnungen machen zu dürfen. Aus meiner eigenen, sehr gemütlichen und komfortablen Comfort-Zone auszutreten und in die Learning-Zone überzugehen. Denn das ist es, was Globales Lernen letztendlich ausmacht: Viele kleine und große Learnings.

So ein Freiwilligendienst ist kein einjähriger Urlaub, es ist ein, spätestens zum Zeitpunkt der Vorbereitungsseminare angestoßener und wahrscheinlich auch nie ganz endender, Prozess persönlicher Weiterentwicklung im Hinblick auf das globale Ganze. Mir beispielsweise über kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland und Kolumbien bewusst zu werden und dann, im Zuge dessen, auch zu akzeptieren, mich meiner Gastkultur anzupassen, ist ein wichtiger Schritt. Dass ich gelernt habe, dass es in Bezug auf Kulturen indirekte und direkte Kommunikation, hohe und niedrige Kontextbezogenheit, Kollektivismus und Individualismus, Hierarchie und Egalitarismus, das Kultur-Person-Situation-Konzept, den Eisberg, die D.I.V.E.-Methode und vieles mehr gibt, hat mir während meines Auslandsaufenthaltes geholfen, Situationen besser einschätzen und damit umgehen zu können und wird mir auch in Zukunft weiterhin helfen, Kulturen besser zu verstehen.

Ich sehe es als riesiges Privileg an, dass ich in einem Alter von 20 Jahren bereits eine solche Erfahrung durch die Unterstützung des BMZ (Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) machen durfte. Gleichzeitig habe ich mitbekommen, dass sich viele junge und engagierte Personen in Kolumbien eine solche Möglichkeit auch wünschen würden, es aber dort keine staatliche Unterstützung dafür gibt und dementsprechend für sehr viele Personen unbezahlbar ist. Eine solche Ungerechtigkeit, dass es eben nicht die gleichen Chancen für Süd-Nord-Freiwillige (Menschen aus dem Globalen Süden, die ihren Freiwilligendienst in einem Land des Globalen Nordens leisten), wie für Nord-Süd-Freiwillige gibt, aufgrund fehlender finanzieller Mittel, Visaschwierigkeiten oder fehlender Akzeptanz, sollte im Jahr 2024 nicht mehr vorkommen. Dass sie es dennoch tut, zeigt uns den Weg, den wir noch zu gehen haben. Globales Lernen heißt für mich aber keineswegs, dass es ausschließlich im Ausland stattfindet.

Was ich damit sagen möchte, ist, man muss nicht einmal um den halben Globus fliegen, um global zu lernen. Sich aktiv für eine gerechtere und friedlichere Welt einzusetzen, eine Welt ohne Diskriminierung und Rassismus, ohne Neokolonialismus und Ausbeutung, indem man sich aktiv gegen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen stellt und für die Stärkung von Demokratie einsetzt, auch das gehört für mich zu Globalem Lernen.

Was hast du über Entwicklungszusammenarbeit gelernt?

Ich hatte durch meinen Leistungskurs Erdkunde bereits vor dem Freiwilligendienst eine kritische Position zum Begriff „Entwicklung“, da es für mich keine ausreichend klare Definition gibt. Was ist Entwicklung? In welche Richtung geht sie? Wer bestimmt, was „weiter“ und was „weniger weit“ entwickelt ist? Warum wird dies für gewöhnlich am Globalen Norden gemessen? Warum geht mit dem „Entwicklungs“-Stand eines Landes auch direkt eine Wertigkeit einher? Gibt es ein zu erstrebendes „Endstadium“, also ein perfekt entwickeltes Land? Sind aus ökologischer Sicht nicht eher Länder des Globalen Nordens „unterentwickelt“?
Auch Entwicklungszusammenarbeit ist ein unglaublich komplexes Themengebiet. Schnell wird dabei eine westliche Helferrolle (Stichwort white saviorism) impliziert, die suggeriert, dass der Globale Norden dem Globalen Süden bei seiner Entwicklung „helfen“ müsse. Auch daraus resultieren wiederum viele Fragen: Möchte „der“nor Globale Süden dies überhaupt? Ist es überhaupt erstrebenswert, dass sich alle Länder so „entwickeln“, wie es Länder des Globalen Nordens getan haben? Dürfen diese Länder nicht ihren eigenen Weg der „Entwicklung“ finden? Müssen wir sie dabei noch immer in eine Abhängigkeit des Globalen Nordens drängen? Profiliert sich der Globale Norden womöglich nicht einfach mit dem Begriff? Müsste es nicht eigentlich „Reparationszahlungen“ heißen? In welcher Hinsicht ist es eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe von der beide profitieren?

Wie also bereits hervorgeht, ist Entwicklung und was damit zusammenhängt ein heikles Thema. Auch dass das weltwärts-Programm offiziell als „entwicklungspolitischer Freiwilligendienst“ gilt, halte ich für fragwürdig. Ich bin nicht der Meinung Entwicklungsarbeit geleistet zu haben und denke auch nicht, dass das unsere Aufgabe ist, zumal wir dafür auch gar nicht ausgebildet sind.
Vor diesem Hintergrund betrachtet habe ich im Freiwilligendienst selbst und in meinen Projekten also nicht viel mehr über Entwicklungszusammenarbeit gelernt, als, und da kommen wir zum springenden Punkt, ich im Erdkunde Leistungskurs und bei den Vorbereitungsseminaren von AFS gelernt habe. Denn in diesen Seminaren haben wir in vielen Einheiten wichtige Themen, die dieses Themenfeld betreffen, thematisiert: Angefangen mit Vorurteilen und Stereotypen, über wie diese zu Diskriminierung und dann auch zu Rassismus führen können, bis hin zu Kolonialismus und Eurozentrismus.

Diese Seminare haben mich erneut dafür sensibilisiert, wie tief verankert doch unsere eurozentristische Sichtweise auf die Welt ist. Oft ist es mir sogar passiert, dass ich in meinem Auslandsaufenthalt die Begrifflichkeiten „Globaler Norden“ und „Globaler Süden“ genutzt habe, wenn auch diese nicht frei von Kritik sind, während die mir gegenüberstehende kolumbianische Person von Kolumbien als „dritte Welt Land“ und von Deutschland als „erste Welt Land“ gesprochen hat. Dass Eurozentrismus, definiert als „die Beurteilung nicht-europäischer Kulturen aus der Perspektive europäischer Werte und Normen“ (Quelle: IKUD Seminare) also nicht nur von europäischen auf nicht-europäische Kulturen angewendet, sondern auch von nicht-europäischen Kulturen auf sich selbst übertragen wird, hat mich erschreckt.
Ich wurde also im Zuge meines Freiwilligendienstes, insbesondere auf den Seminaren, für das Thema der Entwicklungszusammenarbeit sensibilisiert und welche Herausforderungen damit einhergehen. Natürlich gibt es aber viele Programme, in denen Entwicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe durchgeführt wird oder werden soll, wie z.B. die Graswurzelpartnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda. Auch das Ziel, Armut zu beseitigen, soziale Gleichheit, persönliche Freiheit und Zukunftschancen auf globaler Ebene herzustellen, ist natürlich absolut zu unterstützen. Nur muss, meiner Meinung nach, eine stetige kritische Auseinandersetzung aller Parteien erfolgen, damit diese Zusammenarbeit auch tatsächlich auf Augenhöhe stattfinden kann.
In Kolumbien hat sich die Lage bezüglich Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte in den letzten Jahren deutlich verbessert: Mit der Stadtentwicklung von Medellín, einer Metropole, die Anfang der 90er-Jahre die Stadt mit der höchsten Mordrate weltweit war und 2012 zur innovativsten Stadt der Welt gekürt wurde, wird beispielsweise eindrücklich und mutig gezeigt, dass Veränderungen möglich sind, wenn Visionen wirklich umgesetzt werden.

Wie planst du, deine Erfahrungen weiterzugeben?

Erlebe Kolumbien mit all seiner Vielfalt im Freiwilligendienst mit AFS.

Ich möchte die Erfahrungen, die ich während meines Auslandsaufenthaltes gesammelt habe, besonders in einzelnen Gesprächen weitergeben. Mit meiner Familie, mit Freunden, mit Gleichaltrigen, Jüngeren, Älteren, mit Gleich- und mit Andersgesinnten. Ich freue mich darauf, in jeder einzelnen Konversation das Bild, was Personen möglicherweise über Kolumbien im Kopf haben, ein klein wenig zu verändern und meine Faszination über die Vielfalt und Schönheit dieses Landes an sie weiterzugeben.

Wie wirst du dich in Deutschland für globale Entwicklung einsetzen?

Im Kleinen beziehungsweise im direkten Möglichkeitsfenster möchte ich weiterhin bei AFS aktiv sein, möglicherweise die Rolle als Teamerin bei den Vor- oder Nachbereitungsseminaren übernehmen und mich auch somit im Kontakt mit jungen, motivierten, auslandsinteressierten Menschen über unsere Erfahrungen austauschen. Längerfristig gesehen strebe ich ein Studium an, das diese globalen Themen ausführlich und intensiv behandelt, in dem ich mich dann nochmals sensibilisieren und in globaler Entwicklung weiterbilden kann.

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