Lea, Japan, 2015, Schuljahr im Ausland mit Carl Zeiss-Stipendium:

Januar 2016. Nun bin ich tatsächlich schon vier Monate in Japan und habe schon fast die Hälfte meines Auslandsjahres hinter mir – was mich im Moment ehrlich gesagt ziemlich schockiert. Mein momentanes Gefühl ist unglaublich schwer zu beschreiben: auf der einen Seite fühle ich mich hier sehr zuhause – als ob ich schon viel länger in Japan wäre, andererseits, als ob ich gerade erst angekommen bin und erst langsam beginnen würde, mich tatsächlich hier einzuleben.

Es fällt mir sehr schwer, diesen Bericht zu schreiben, weil ich das Gefühl habe, alle meine bis jetzt gesammelten Eindrücke selbst noch nicht richtig verarbeitet zu haben. Aber was ich bis jetzt auf jeden Fall sagen kann, ist, dass mich dieses Jahr, auch wenn ich davon bis jetzt erst vier Monate erlebt habe, schon um einiges weiter gebracht hat. Ich habe in diesen vier Monaten schon so unglaublich viele Eindrücke und Erfahrungen sammeln können und ich bin einfach nur unendlich dankbar dafür, dies alles erleben zu dürfen. An dieser Stelle vielen Dank an AFS und Carl Zeiss. Dieses Jahr wäre mir ohne dieses Stipendium nicht möglich gewesen.

Meine ersten Eindrücke

Meine ersten Eindrücke von Japan bei meiner Ankunft liegen nun schon wieder vier Monate zurück. Es waren in dem Moment einfach so viele, dass ich gar nicht mehr richtig weiß, was wohl der Erste war, wurde ich doch ziemlich von den neuen Eindrücken erschlagen. Einer meiner ersten Eindrücke war aber sicher, wie eng hier alles ist. Wie dicht die Stadt besiedelt ist, wie klein die Häuser und wie schmal die Straßen sind. Ich bin in Deutschland in einem etwas größeren Dorf aufgewachsen, der Unterschied zu meinem jetzigen Wohnort, mitten im Herz von Kyoto, zwei Minuten von einem großen Bahnhof entfernt, könnte kaum größer sein. So wäre es mir vielleicht auch in Deutschland gegangen, wäre ich plötzlich in eine große Stadt gezogen, trotzdem verbinde ich es sehr mit Japan.

Die Schule – Dreh- und Angelpunkt des Lebens eines japanischen Schülers

Ich bin an einem Sonntag in Kyoto angekommen und bereits am Montag zum ersten Mal in die Schule gegangen, und diese unterscheidet sich wirklich sehr von dem, was ich aus Deutschland gewohnt bin. Wahrscheinlich wäre das auch ein wichtiger Punkt, den ich kommenden Austauschschülern als einen der größten Unterschiede präsentieren würde. Dies liegt aber wohl auch daran, dass die Schule der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens in Japan geworden ist. Und das ist auch der Punkt, der sie von der deutschen Schule so unterscheidet. Die japanischen Schüler haben jeden Tag bis in den Nachmittag Unterricht und fast jeder besucht danach noch einen Club, also eine AG, und dies fast jeden Tag – auch an den Wochenenden. Anschließend, wenn die Schüler abends nach Hause zurückkommen, wird noch sehr viel gelernt. Wobei ich aber nicht sagen würde, dass die Japaner mehr oder schwierigere Sachen lernen müssen, aber das Schulsystem ist komplett anders angelegt.

Dass ich ebenfalls so fast den ganzen Tag in der Schule verbringen, und selbst an Sams- und Sonntagen je vier Stunden für den Club freiräumen sollte, hat mich, um ehrlich zu sein, zuerst ziemlich geschockt. Mittlerweile habe ich mich aber schon so sehr daran gewöhnt, dass ich an freien Tagen oft gelangweilt bin und lange Spaziergänge zu Kyotos Sehenswürdigkeiten unternehme, um mich zu beschäftigen, statt wie in Deutschland meinen freien Tag glücklich auf dem Sofa zu vergeuden.

Mein Unmut – und so muss man es tatsächlich nennen – über die Beanspruchung durch die Schule kam sicher daher, dass ich mich gefragt habe, wann ich denn dann etwas mit meinen theoretischen neuen Freunden unternehmen solle. Aber wie ich auch schon bereits geschrieben habe, nimmt die Schule ja nicht nur meinen Tag ein – die japanischen Schüler sind davon natürlich genauso betroffen.

Auch habe ich das Gefühl, dass die Art und Weise, wie man sich mit jemandem in Japan trifft, von den Gepflogenheiten in Deutschland sehr unterscheidet. Zum Beispiel bedeutet in Japan sich „zu treffen“ in der Regel, zusammen tatsächlich auch etwas zu unternehmen, dass heißt shoppen, essen oder sightseeen zu gehen, statt jemanden zu sich nach Hause einzuladen und einfach miteinander zu reden oder spazieren zu gehen. Aber natürlich habe ich in diesen vier Monaten auch noch nicht solche Freunde gefunden, wie ich in Deutschland hatte. Vielleicht liegt es auch daran, dass man eine relativ fremde Person in Japan nicht so gerne zu sich nach Hause einladen will, was ich auch ziemlich verständlich finde. Zum anderen ist da natürlich auch die Sprachbarriere, die „einfach miteinander reden“ als etwas schwierig gestaltet.

Freunde und Gastfamilie

Was mir im Moment die meisten Schwierigkeiten bereitet, ist wohl auch direkt damit verbunden: Es ist etwas schwierig Freunde und Anschluss zu finden, einerseits natürlich durch die unterschiedliche Sprache, andererseits ist es eben auch schwierig, neu in ein Umfeld hineinzukommen, das so – bis jetzt ohne einen selbst – eigentlich bereits fertig und vollständig existierte. Umso mehr freue ich mich, dass ich tatsächlich ein paar Freunde finden konnte, und zu dem, was mir bis jetzt am meisten Freude bereitet, gehört sicher auch, sich mit eben diesen Leuten zu treffen. Dann ist es mir auch immer eine große Freude, Dinge mit meiner Gastfamilie zu unternehmen. Ich bin jedes Mal total begeistert davon, wie diese Familie mich einfach so aufgenommen hat und mich wie selbstverständlich überallhin mitnimmt. Jetzt mit meiner Gastfamilie zusammen Neujahr zu feiern, war sicher eine der schönsten Erinnerungen, die ich bis jetzt machen durfte.

Ein besonders negatives Erlebnis zu nennen, fällt mir ein bisschen schwer, da ich versucht habe, aus bisher allem das Beste herauszuholen. So würde ich auch sagen, dass mir das bis jetzt eigentlich gelungen ist. Etwas negativ war für mich hier in Japan Weihnachten zu erleben. Einfach aus dem Grund, dass es in Deutschland eben ein großes Familienfest ist, wohl das wichtigste Fest im ganzen Jahr und es hier, mit Ausnahme der Dekoration in den Einkaufszentren zum Kaufanreiz, kaum gefeiert wird. Meine Gastfamilie musste an Weihnachten arbeiten, bzw. meine Gastschwester lernen und so habe ich mich sehr einsam gefühlt, mal davon abgesehen, dass ich meine deutsche Familie vermisst habe. Trotzdem habe ich es geschafft, aus dieser Erinnerung eine sehr schöne zu machen, indem ich mich dann aufgemacht habe und eine internationale Kirche in Kyoto besucht habe. Die Kirchengemeinde hat mich sehr herzlich aufgenommen und mir dann ein etwas anderes – und vielleicht im Vergleich mit dem deutschen etwas enttäuschendes – aber trotzdem unglaublich schönes Weihnachten beschert.

Kyoto – Eine Stadt der Kontraste

Eine der Szenen, eine Erinnerung, die ich meinen Freunden in Deutschland beschreiben würde, wäre der Ausblick vom Kiyomizu-dera, einem Tempel, den ich mit einer Klassenkameradin Anfang Dezember besucht habe. Von dort kann man fast ganz Kyoto überblicken. Allem voran den Bereich um den Hauptbahnhof von Kyoto, den Kyoto-Tower und generell das Zentrum der Stadt kann man gut sehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich hier in Kyoto bin, und vielleicht beschreibt es auch eben nur Kyoto, und nicht Japan, aber dieser Ausblick beschreibt ziemlich gut, wie ich mein Leben in Japan im Moment sehe. Dieser Kontrast zwischen dem pumpenden Herz der Großstadt und dem Tempel, dessen Geschichte bis ins Jahr 798 zurückreicht. Das ist wahrscheinlich das, als was ich Japan im Moment am meisten sehe: ein Land der Kontraste, der irgendwie Hand in Hand gehenden Wiedersprüche.

Und ich stecke da momentan mitten drin, bin irgendwie Teil und irgendwie doch eher Beobachter des Ganzen. Ich bin fremd hier, doch fühle ich mich, als ob ich mit all meinen eigenen Wiedersprüchen doch wunderbar hier hineinpasse. Und je mehr sich Japan mir aufdeckt, umso mehr werde ich vom Beobachter zum Teil. Ich habe wirklich das Gefühl trotz aller Schwierigkeiten sehr an diesem Jahr zu wachsen. Ein Gefühl, dass hinter jedem Tief ein neues, das Tief vielfach übertrumpfendes Hoch steht.

Dieser Kontrast ist einer der Gründe gewesen, die Japan für mich so interessant gemacht haben. Natürlich wusste ich von seiner Existenz, natürlich ist das nicht alles komplett neu. Aber es so tatsächlich zu erleben, eben nicht nur durch das Internet, Bücher und Filme an der Oberfläche zu kratzen, sondern tatsächlich in dieses neue Land, diese fremde Kultur einzutauchen – auch wenn ich mir hier ebenfalls sicher bin, dass es noch um einiges tiefer geht, und ich mein Jahr hier doch gerade erst begonnen habe – ist etwas völlig anderes.

Mein Rat an zukünftige AFS-Austauschschüler

Kommenden AFS-Austauschschülern würde ich mit auf den Weg geben: Nur weil etwas anders ist, bedeutet das nicht, dass es schlecht ist. In einem Auslandsjahr ist fast alles anders. Wir machen das Jahr ja auch nicht, um in einem zweiten Deutschland mit anderem Namen zu leben. Das Wichtigste ist vielleicht, sich neue Dinge zu trauen und aus seiner Komfort-Zone auszubrechen, besonders dann, wenn es einem schlecht geht. Auch sich auf Dinge einzulassen und einfach zu gucken, was dabei rauskommt, ohne sie als schlecht zu sehen, nur weil sie ungewohnt sind. Und auch die Erkenntnis, dass man die Dinge selbst in der Hand hat und seine Situation verändern kann.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist sicher, sich nicht mit anderen zu vergleichen. Jeder macht hier seine eigenen unvergleichbaren, wichtigen Erfahrungen und jeder in seinem eigenen Tempo. Außerdem haben wir ja nur oberflächlichen Einblick in das, was die anderen erleben. Natürlich ist so ein Austauschjahr nicht einfach, doch das ist es für niemanden. Aber es ist eine unglaubliche, einzigartige Erfahrung, die einem niemand jemals wieder wegnehmen kann.

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