Anna Engelke (USA, 1986/87) kommt rum in der Welt. Im Januar 2020 begleitete die Sprecherin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihren Dienstherren zu einer viel beachteten Rede in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Derzeit ist für die ehemalige Journalistin und Autorin Homeoffice angesagt. Wir haben mit ihr über ihre internationale Arbeit in Zeiten von Corona, über das Erinnern an den Holocaust und darüber gesprochen, was passiert wäre, wenn sie als junges Mädchen in Dortmund nicht für einen Schüleraustausch ausgewählt worden wäre.
Welche Umstellung bringt die aktuelle Corona-Krise für dich mit sich? Arbeitest du auch im Homeoffice?
Ich arbeite für einen Mann, der üblicherweise viel unterwegs ist. Das ist er jetzt nicht mehr und damit bin ich es auch nicht. Unsere letzte Auslandsreise ging Ende Februar nach Kenia und in den Sudan, unsere letzte Reise im Inland ein paar Tage später nach Zwickau – beides kommt mir heute wie aus einer anderen Zeitrechnung vor. Eben „vor Corona“. Auch privat bin ich nicht über Ostern nach Washington und New York City geflogen, sondern zu Hause geblieben. „Zu Hause“ – da ist jetzt auch mein Büro. Telefonkonferenzen, Telefonate und zig mehr E-Mails bestimmen den Tagesablauf. In mein richtiges Büro im Bundespräsidialamt fahre ich ein- bis zweimal die Woche – in einer sehr, sehr leeren S-Bahn.
Dein Austauschjahr mit AFS liegt nun 33 Jahre zurück. Hast du noch Kontakt zu jemandem aus deinem Jahr in New Yersey – deiner Gastfamilie oder Freund*innen vielleicht?
Meine Güte – 33 Jahre! Das ist wirklich lange her. Ja, ich habe noch Kontakt zu meinen Gastgeschwistern, besonders zu meinem „little bro“ Lars. Mein wunderbarer Gastvater Larry ist leider im vergangenen Jahr gestorben. Aber glücklicherweise hat er meinen Mann und mich davor noch in Berlin besucht und wir haben zusammen eine schöne Bootstour über den Wannsee gemacht.
Wie beurteilst du dein Austauschjahr heute, inwiefern hat es dich geprägt? Welchen Einfluss hatte die AFS-Erfahrung auf deinen Lebensweg und deinen beruflichen Werdegang?
Dieses Jahr hat mich enorm geprägt. In dem Jahr oder besser gesagt, in den zehn Monaten in den USA habe ich zum ersten Mal das Bedürfnis gehabt, aus jedem Tag etwas machen zu wollen, eben weil ich nur eine begrenzte Zeit in den USA zur Verfügung hatte. Also tatsächlich „seize the day“. Dieses Gefühl, jeden Tag als etwas Besonderes zu sehen, das kannte ich davor nicht. Aber nicht nur das: Ich bin in dem Jahr zwar dicker geworden, aber auch offener, wahrscheinlich sogar freundlicher. Und natürlich internationaler. Plötzlich kannte ich nicht nur Leute in New Jersey, sondern in Wien, Brüssel, Barcelona, Bangkok, Südamerika und auf der anderen Seite der Welt, in Sydney – alles Austauschschüler von AFS. Mitte der 1980er Jahre ohne E-Mail, Skype und Social Media waren das für mich besondere Freundschaften, die auch noch eine Zeitlang gehalten haben. Für mich selbst war nach dem Austauschjahr klar, dass ich gerne in die Welt hinaus wollte. Die Zeit als Auslandskorrespondentin in Washington war für mich deswegen schlicht ein Traum, der in Erfüllung gegangen ist. Und noch etwas hat dieses Jahr gebracht: sich nicht nur in einem anderen Land zu Hause zu fühlen, sondern auch in einer anderen Sprache.
Glaubst du, dass du heute ohne dein Austauschjahr da wärst, wo du jetzt bist?
Wahrscheinlich nicht. Ich werde heute noch regelrecht nervös, wenn ich darüber nachdenke, was passiert wäre, wenn sie mich damals im Chapter Dortmund nicht als Austauschschülerin ausgewählt hätten. Dann wäre mein Leben anders verlaufen. Weniger bunt.
AFS wird im April 2020 der 75-jährigen Befreiung des KZ Bergen-Belsen gedenken. Damals waren 69 Sanitätswagen-Fahrer des American Field Service bei der Evakuierung beteiligt. Du warst selber im Januar 2020 bei der Holocaust-Gedenkfeier in Yad Vashem in Israel, wo Frank-Walter Steinmeier eine viel beachtete Rede hielt. Was bedeutet dir persönlich dieses Gedenken?
Ich war selbst überrascht, wie angespannt ich war, als der Bundespräsident in Yad Vashem seine Rede gehalten hat. Vor ihm hatten die Staatsoberhäupter der Alliierten gesprochen, außerdem noch der israelische Präsident und schließlich wurden die Filmaufnahmen von der Befreiung von Auschwitz gezeigt. Die Bilder von den bis auf die Knochen abgemagerten Menschen haben wir alle schon häufig gesehen und sie sind fürchterlich. Aber in diesem Augenblick waren sie schier unerträglich. Denn inmitten dieses internationalen Publikums war mir besonders bewusst: Es gibt ein Land, das für all das verantwortlich ist. In diesem Moment habe ich mein Deutschsein so stark gemerkt wie selten. Wie kann der Bundespräsident jetzt auf die Bühne gehen und seine Rede halten, habe ich mich gefragt. An diesem Ort? Vor Überlebenden des Holocaust? Aber er hat es gemacht. Und er hat es gut gemacht – sage ich, auch wenn ich weiß, dass ich qua Beruf befangen bin. Vor allem dieser eine Satz aus seiner Rede hat sich mir eingeprägt: „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.“ Ich befürchte, das haben wir nicht – jedenfalls nicht alle. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir nie aufgeben dürfen, es zu versuchen. Und wenn ich unsere Geschichte erwähne, dann geht es mir nicht um Schuld, sondern um Verantwortung, die jeder einzelne von uns Deutschen hat. Es geht tatsächlich um das „nie wieder“.
Du hast 2012 gemeinsam mit deinem Mann Jörg Thadeusz ein Buch über die USA verfasst („Die Vereinigten Zutaten von Amerika. Lebensgeschichten aus einem großartigen Land“). Wovon handelt es?
Es sind Porträts über Menschen, die mein Mann und ich in unserer Zeit in den USA kennengelernt haben und die so gar nicht dem Stereotyp entsprechen, das viele von „dem Amerikaner“ oder „der Amerikanerin“ haben.
Was möchtest du Jugendlichen mitgeben, die sich heute überlegen für einen Schüleraustausch ins Ausland zu gehen? Würdest du es weiterempfehlen?
Uneingeschränkt! So ein Jahr verändert das ganze Leben – zum Guten.
AFS bedankt sich für das Interview. Die Fragen für AFS stellte Stefanie Lohrmann (04/2020).