AFS Kuratorin Ulrike berichtet über ihr Auslandsjahr in Kenia

Ulrike Herrmann (Kenia 1980/81) gehört seit 2019 dem AFS-Kuratorium an. Sie ist Wirtschaftsredakteurin bei der „tageszeitung“ (taz). Vorher hat sie unter anderem eine Banklehre abgeschlossen, war auf der Henri-Nannen-Schule für Journalismus und hat Philosophie und Geschichte an der FU Berlin studiert.

Vor 43 Jahren bist du mit AFS nach Kenia gegangen. Wieso hast du dich damals für Kenia entschieden und was ist deine eindrücklichste Erinnerung?

Kenia war eines von vielen Ländern, das ich angekreuzt habe. Ich wäre auch nach Südamerika oder Asien gegangen. Aber AFS hat entschieden, mich nach Kenia zu schicken. Dafür bin ich sehr dankbar. Der Aufenthalt in Nairobi war bestimmt das wichtigste Jahr in meinem Leben. Die zentrale Erfahrung war, dass ich ein Afrika kennenlernen konnte, das Europäer*innen normalerweise versperrt ist. Denn Europäer*innen kommen üblicherweise als Erwachsene nach Afrika – entweder als Entwicklungshelfer*innen oder als Tourist*innen. Sie sind also die Besserwisser*innen oder aber die Auftraggeber*innen. Die meisten Europäer*innen nehmen nie wahr, wie kränkend diese festgefügten Rollenmuster für die Afrikaner*innen sind. Aber als 16jährige Schülerin konnte ich diese Rollenkonflikte weitgehend unterlaufen. Fernab von den weißen Villenvororten lebte ich ganz normal in einer Familie. Die meisten Kinder in unserer Nachbarschaft hatten noch nie eine Weiße gesehen – und hingen staunend vor unserem Wohnzimmerfenster.

Hast du noch Kontakt zu jemandem aus deinem Austauschjahr in Kenia – deiner Gastfamilie, Freunden?

Meine Gasteltern sind leider beide schon gestorben, aber mit der ältesten Tochter habe ich noch Kontakt. Allerdings war sie erst sieben Jahre alt, als ich in Kenia war, und kann sich kaum an mich erinnern. Ihre drei Geschwister waren noch kleiner. Trotzdem ist der Kontakt zu Kenia nie abgerissen, was ich aber – reiner Zufall – auch einer deutschen Kusine zu verdanken habe. Sie hat einen Kenianer geheiratet und mit ihm eine Firma in der Nähe von Kisii gegründet.

Wie beurteilst du rückblickend dein Austauschjahr? Welchen Einfluss hatte die AFS-Erfahrung auf deinen Lebensweg und deinen beruflichen Werdegang?

Für mich war das Austauschjahr sehr prägend. Viele Erfahrungen machen alle Austauschschüler, egal in welchem Land sie waren: Ich habe gelernt, dass ich mich ganz allein in eine neue Umwelt einleben kann. Ich bin selbstständig geworden, auch angstfrei. Ich habe erlebt, wie sich ein „Kulturschock“ anfühlt, und wie bereichernd es ist, anderen Ansichten und Gewohnheiten zu begegnen. Viele Erfahrungen hängen aber auch mit der besonderen Situation in Kenia zusammen: Unter anderem habe ich erlebt, wie traumatisch die Kolonialzeit für die Afrikaner*innen war – als ich in Kenia war, war das Land erst 16 Jahre unabhängig. Meine Gasteltern waren also noch in der Kolonialzeit aufgewachsen und haben die Unterdrückung und die Erniedrigung miterlebt.

Du bist Wirtschaftsjournalistin und hast Bücher über den Kapitalismus geschrieben. Aktuell Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden (für das wir hier sehr gerne werben!) Inwiefern haben deine AFS-Erfahrungen Einfluss auf deinen Blick auf Weltwirtschaft?

Durch die Erfahrungen in Kenia sehe ich die Welt nicht mehr ausschließlich aus der Perspektive der Industrieländer. Nach dem Austauschjahr stellten sich ganz viele Fragen, auf die ich eine Antwort suchte: Warum bleibt der globale Süden arm? Woran scheitert die Entwicklungshilfe? Welche Rolle spielen die multinationalen Konzerne? Waren die Kolonien nötig, damit sich der Kapitalismus entwickeln konnte? Aber auch das Wirtschaftssystem im Norden hatte plötzlich seine Selbstverständlichkeit für mich verloren. Warum war Europa überhaupt reich geworden? Denn es setzt ja bereits ein gewisses Maß an Wohlstand voraus, damit man ganze Kontinente unterwerfen kann. Oder: Warum war die Schweiz reich, obwohl sie nie Kolonien besessen hatte? Ohne diese Fragen wären meine Bücher nie entstanden.

Gibt es Ergänzungen oder Diskrepanzen zwischen deinem persönlichen und deinem wissenschaftlichen Blick auf interkulturelle Kontakte?

Nein. Aber ich fände es gut, wenn man interkulturelle Kontakte nicht nur aufs Ausland beschränken würde. Auch in Deutschland leben viele verschiedene Milieus: Ostdeutsche haben andere Perspektiven als Westdeutsche, Arbeiter*innen andere als Akademiker*innen, Zugewanderte andere als Deutsche, die schon seit Generationen hier leben. Ich stelle jedoch fest, dass man im Alltag meistens seiner eigenen Schicht begegnet. Das gilt auch für mich: Ich treffe vor allem Akademiker*innen, ob in der taz oder bei meinen Vorträgen. So hatte ich mir mein interkulturelles Leben eigentlich nicht vorgestellt. Aber ich bin zu beschäftigt und wahrscheinlich auch zu bequem, um das zu ändern.

Was möchtest du Jugendlichen mitgeben, die sich heute überlegen für einen Schüleraustausch ins Ausland zu gehen?

Es ist eine einzigartige Chance, die es im Leben nie wieder gibt. Denn es ist ein Unterschied, ob man mit 16 Jahren als Schüler*in in einer Familie lebt – oder ob man als Student*in ins Ausland geht. Mit 16 Jahren ist man noch abhängig und auf die Gastfamilie angewiesen. Das klingt vielleicht unschön, aber es eröffnet ungeahnte Chancen, nicht grenzenlos frei zu sein. Man muss sich einlassen. Man kann nicht einfach die Freunde oder den Uni-Kurs wechseln, wenn das erste Problem auftaucht. In der Familie muss man den „Kulturschock“ aushalten, muss mit den Unterschieden klarkommen. Aber nur durch diese Spannung lernt man ein Land und seine Menschen wirklich kennen. Und das Gute ist: Bei AFS wird man nicht allein gelassen. Die Austauschschüler*innen werden vorbereitet und betreut – genauso wie die Gasteltern. Es ist ein gemeinsames, kulturübergreifendes Lernen, und das ist ganz selten im Leben.

Du bist seit 4 Jahren im AFS-Kuratorium. Was motiviert Dich zu Deinem Engagement?

Ich würde mir wünschen, dass alle Schüler*innen die Chance erhalten, ein Austauschjahr zu erleben. Also mache ich Werbung dafür.

AFS bedankt sich für das Interview. Die Fragen für AFS stellte Lilian Adlung-Schönheit (02/2023).

 

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