Julia, Chile, 2017, weltwärts:
Julia hat mit AFS und dem weltwärts-Programm einen Freiwilligendienst in Chile gemacht. Sie hat sich mit der NGO „Techo- Un Techo para Chile“ für gerechtere Städte eingesetzt.
„Was weißt du eigentlich über Chile?“ Diese Frage wurde mir während meiner ersten Tage in meiner neuen Heimat gefühlt andauernd gestellt. Wahrheitsgemäß musste ich gestehen: „Nicht wirklich viel!“ (Es gab einmal einen Putsch und anschließend eine Militärdiktatur, auf Grund der geographischen Lage gibt es viele Erdbeben, beeindruckende Landschaften…). Noch wusste ich nicht, dass mir dieses lange und schmale Land am anderen Ende der Welt und dessen Bewohner innerhalb eines Jahres so sehr ans Herz wachsen würden.
Nach 4 Tagen On-Arrival-Camp in einem kleinen Örtchen 2 Stunden südlich von Santiago, während dem 7 weitere Freiwillige und ich auf das bevorstehende Jahr eingestimmt wurden, führte mich mein Weg fast 1000 km weiter nördlich nach Copiapó, der Hauptstadt der Region Atacama.
Dort stand ich also, an einem kleinen Flughafen mitten in der trockensten Wüste der Welt und am anderen Ende der Halle stand eine Gruppe fröhlich winkender Leute: Meine Gastfamilie und meine Betreuerin von AFS.
Meine chilenische Gastfamilie
Von meiner neuen Familie wurde ich unglaublich freundlich empfangen, was mir das Einleben deutlich erleichterte. So erledigten wir zu Beginn gemeinsam Behördengänge, ich wurde in die Arbeit gebracht und es gab verschiedene Ausflüge ans Meer und ins Landesinnere. Nach kürzester Zeit fühlte ich mich als Teil der Gemeinschaft.
Meine Familie bestand aus meiner Gastmutter, der ich letztendlich am nächsten stand, und meinem Gastvater, der im Bergbau im Schichtbetrieb arbeitete und den ich deswegen abhängig von seiner Arbeitszeit sah. Außerdem hatte ich 3 Gastbrüder, die aber alle nicht mehr zu Hause lebten (2 studierten in Santiago und der älteste wohnte ein paar Häuser weiter mit seiner Frau und seiner Tochter) und meine jüngere Gastschwester.
Ich habe mich das gesamte Jahr super mit meiner Gastfamilie verstanden. Immer wieder besuchte ich auch meine Gastbrüder in Santiago und hatte immer das Gefühl, von meiner Familie unterstützt zu werden, ganz egal, welche Probleme gerade anstanden, und dafür bin ich allen unglaublich dankbar.
Meine Einsatzstelle
Auch bei meinem Arbeitsplatz wurde ich freundlich aufgenommen. Ich arbeitete in der NGO Techo- Un Techo para Chile. Die Organisation setzt sich in ganz Südamerika für gerechtere Städte ein. In Chile bedeutet das konkret, dass man mit Familien in campamentos (illegale Siedlungen, die kaum über Infrastruktur verfügen) arbeitet. Zusammen mit mir arbeiteten 4 hauptamtliche Mitarbeiter in dem Büro in Copiapó. Doch unser Team wurde von über 30 lokalen Freiwilligen (Schüler und Studenten) unterstützt, was ich als sehr positiv wahrgenommen habe, da ich so sehr schnell Leute in meinem Alter kennenlernte.
Insgesamt (mit allen Freiwilligen und dem Büro) kümmerten wir uns letztendlich um 7 campamentos in der Region. Unter der Woche (Mo.-Fr. 9-18:30 Uhr; mit 1 ½ h Mittagspause) unterstützten wir die Familien bei organisatorischen Aufgaben (z.B. Kontakt mit der Gemeinde). Außerdem kümmerten wir uns um die Freiwilligen und erklärten ihnen, wie sie die geplanten Projekte unterstützen konnten, denn an den Wochenenden gab es oftmals verschiedene Aktionen in den campamentos (z.B. Bildungs- oder Bauprojekte). Außerdem gab es das ganze Jahr über verschiedene Großaktionen, weshalb dann deutlich mehr Arbeit anfiel. Halbjährig finden beispielsweise die sogenannten trabajos de verano oder invierno statt. Dies sind Bauarbeiten, bei denen sich Freiwillige aus verschiedenen Regionen treffen und zusammen gemeinnützige Projekte bauen. Zudem findet einmal pro Jahr die collecta nacional statt. Hierbei werden Spenden gesammelt, um die Arbeit des Büros zu finanzieren.
Dennoch gab es während des Jahres auch Zeitpunkte, an denen ich sehr wenig zu tun hatte. Diese nutzte ich anfangs, um mein Spanisch zu verbessern, und später, um mich über verschiedenste Themen zu informieren. Insgesamt hat mir das Jahr über die Arbeit mit den lokalen Freiwilligen am meisten gefallen, da ich so am besten die chilenische Kultur kennen lernen und mich mit Gleichaltrigen austauschen konnte. Doch auch die Arbeit in den campamentos erschien mir sehr spannend, da die dortige Lebenssituation ein anderes Bild des Landes zeigt, das viele Chilenen selbst nicht kennen bzw. auch nicht kennenlernen wollen.
Neue Erfahrungen in Chile
Nach dem Ankommen und dem Einleben wurden für mich sehr viele neue Dinge recht schnell zum Alltag. Das Erste, an das ich mich gewöhnen musste, war der öffentliche Nahverkehr. Dieser besteht nämlich aus sogenannten micros (Kleinbussen), die aber leider nicht in mein Stadtviertel fuhren, weshalb ich meistens in collectivos unterwegs war. Collectivos sind Sammeltaxis, die auf festen Routen durch die Stadt fahren: Will man einsteigen, winkt man einem vorbeifahrenden Taxi zu und sagt dann dem Fahrer, wo man wieder aussteigen möchte. Zu Stoßzeiten (morgens und abends) oder auch am Stadtrand muss man jedoch immer etwas mehr Zeit einplanen, bis ein (leeres) collectivo vorbeikommt.
Für mich als vorherige absolute Heißgetränke-Hasserin war natürlich auch der abendliche teecito sehr gewöhnungsbedürftig. Zum Abendessen wurde nämlich immer Tee serviert, etwas, das ich nun teilweise auch für mein Leben in Deutschland übernommen habe. Generell war ich nach kürzester Zeit von dem chilenischen Essen begeistert. Da gab es zum Beispiele completos (eine Art Hotdog mit Avocado) oder pastel de choclo (ein Art Maisauflauf) oder die berühmte torta de mil hojas (eine Torte aus Blätterteig und manjar (Caramel)).
Aber auch an verschiedene Eigenarten der Chilenen musste ich mich gewöhnen. Zum Beispiel, dass viele Besprechungen mit Freiwilligen ganz selbstverständlich mit einer halben oder einer Stunde Verspätung begannen oder, dass sich oftmals Planungen einfach verliefen.
Doch natürlich sind mir nicht nur negative Sachen aufgefallen, sondern ich lernte in kürzester Zeit die fröhliche und freundliche Art der Bewohner meiner neuen Heimat zu schätzen. Ich wurde immer gut aufgenommen, ganz egal, ob bei der Arbeit, wenn ich Freunde besuchte oder einfach auf der Fahrt in die Arbeit. Hierbei wurde mir dann oft gesagt: „Du bist ja gar nicht so kaltherzig!“, denn in vielen Köpfen, sowohl in Chile aber auch in Deutschland, ist anscheinend das Vorurteil verankert, dass alle „Latinos“ warmherzig und alle „Europäer“ kaltherzig seien. Das kann ich so nach meinen Erfahrungen nicht bestätigen, denn es kommt immer auf den Einzelfall an.
Betreuung durch AFS
Mit der Betreuung von AFS Chile war ich absolut zufrieden. Neben dem ersten bereits angesprochenen Seminar am Anfang hatten wir noch 3 weitere Seminare, die stets sehr angenehm waren, da immer zusätzlich zu den Einheiten auch Ausflüge unternommen wurden und wir so noch mehr von dem Land und der Kultur zu sehen bekamen.
Das zweite Seminar fand Anfang November in Santiago statt. Hier ging es vor allem darum, zu besprechen, wie wir uns eingelebt hatten und Probleme, die aufgetreten waren, zu vergleichen und gemeinsam Lösungsansätze zu finden.
Das vorletzte Seminar war im April in Valparaiso, was für mich ein persönliches Highlight war, da ich davor tatsächlich noch nicht in diese, doch sehr bekannte, chilenische Hafenstadt gekommen war. Neben den vielen Ausflügen (z.B. Hafenrundfahrt oder Stadtrundgang) ging es hier schon darum, uns ein wenig auf den Abschied vorzubereiten, zum Beispiel uns vor Augen zu führen, welche Dinge wir noch gerne machen würden und darüber nachzudenken, welche neu erlernten Eigenschaften man gerne mit nach Deutschland nehmen würde.
Das letzte Seminar wurde wiederum in Santiago abgehalten und war dafür gedacht, Bilanz zu ziehen und das Jahr, das wir nun in Chile verbracht hatten, zu einem schönen Abschluss zu bringen. Da aber fast alle noch anschließend ihren Reisemonat vor sich hatten, kam uns in diesem Moment der Abschied von Chile noch sehr surreal vor.
Auch mit meinem lokalen Komitee hatte ich keine Probleme. Ich wurde zu diversen Aktivitäten (z.B. zum Besuch einer Empanada Bäckerei oder zu einem Grillnachmittag anlässlich des Nationalfeiertags) eingeladen. Dort lernte ich dann auch die Austauschschüler kennen, mit denen ich mich auch gut verstand. Aber auf Grund des verschiedenen Alltags hatte ich dann doch eher weniger Kontakt mit den anderen „AFSern“, worüber ich aber auch nicht traurig war, da ich mich ja super mit meinen chilenischen Freunden verstand. Aber auch die Vor- und Nachbereitung durch AFS- Deutschland fand ich super, da sie dem ganzen Jahr nochmal einen Rahmen gab.
Das nehme ich aus meinem Auslandsjahr mit
Abschließend kann ich sagen, dass ich in Chile wahnsinnig viel gelernt habe. Da wäre natürlich erstmal der offensichtliche Aspekt der Sprache. Als ich in Chile ankam sprach ich zwar ein bisschen Spanisch (Ich hatte die Sprache 3 Jahre in der Schule gelernt), doch da die Chilenen in ihrem eigenen Dialekt, z.B. mit eigenen Wörtern, reden, war am Anfang die Kommunikation auf das Grundlegende beschränkt. Doch durch aufmerksames Zuhören lernte ich relativ schnell, mich in das Chilenisch einzufinden. Am wichtigsten ist es einfach, über den eigenen Schatten zu springen und mit den Leuten zu reden. Anfangs mag das vielleicht noch nicht so gut funktionieren, doch mit ein wenig Zeit und Geduld verbessert sich die eigene Ausdrucksweise ganz von allein. Oftmals bekommt man selbst gar nicht mit, was für Fortschritte man macht, und wird dann von der Familie und Freunden darauf angesprochen, was jedes Mal ein Erfolgserlebnis ist.
Jedoch habe ich auch viel über meine eigene Sichtweise der Welt gelernt. So stellte ich schnell fest, dass ich mit einem relativ klaren Bild der Region nach Südamerika kam (geprägt durch Medien und Erzählungen), das sich aber bei genauem Betrachten nicht mit der lokalen Realität deckte. Ich war darauf eingestellt, in ein Land voller mir unverständlicher Kulturen und auf einem völlig anderen „Entwicklungsstandard“ zu kommen. Doch stattdessen fühlte ich mich von Beginn an willkommen und zuhause. Schon allein diese Erfahrung hat meine Sicht, nicht nur auf Südamerika, aber auch auf viele andere Regionen nachhaltig verändert. In einer Zeit, in der viele Länder einen sehr nationalistischen Weg einschlagen, finde ich es sehr wichtig, sich für Völkerverständigung einzusetzen und Menschen für Themen wie Entwicklungszusammenarbeit zu sensibilisieren.
Deshalb ist für mich klar, dass ich mich auch gerne weiter engagieren würde, um anderen Menschen die Möglichkeit zu bieten, Ähnliches wie ich zu erleben. Am interessantesten finde ich hierbei den Süd-Nord-Austausch von weltwärts, der es Menschen ermöglicht, in Deutschland einen Freiwilligendienst abzuleisten. Ich hoffe sehr, dass ich mich dort in Zukunft einbringen kann, denn ich möchte gerne meine Erfahrungen weitergeben und mich somit immer wieder an all die schönen Erlebnisse aus Chile erinnern.