Henry, USA, 2017, Schuljahr im Ausland mit AJA-Stipendium:

In den USA ist alles größer, das ist kein Klischee sondern Fakt. Das merkte ich bereits als ich in Phoenix, Arizona aus dem Flugzeug stieg, um meine erste Nacht in den Staaten zu verbringen. Am nächsten Tag holte meine Gastmutter mich ab, um mit mir nach Tucson (ebenfalls in Arizona) zu fahren, wo ich mein Auslandsjahr verbrachte.

Außerdem sind die Staaten auch ganz klar ein Land der Extreme, was sich sehr gut anhand des Schulalltags erklären lässt. Zum einen sind die meisten High Schools sehr, sehr viel größer als deutsche Schulen. Mit über 2000 Schülern von der neunten bis zur zwölften Klasse war meine amerikanische Schule sehr viel größer, als das, was ich gewohnt war. Auch der Unterricht ist anders. So wird zum Beispiel wenig bis gar keinen Wert auf mündliche Mitarbeit gelegt, auch ist der Stoff meistens einfacher. Aber wenn man ein höheres Anforderungsniveau gewählt hat, können die Hausaufgaben auch ganze Nachmittage in Anspruch nehmen.  Dazu muss man sagen, dass Arizona eines der geringsten Budgets für Bildung in den ganzen USA hat (47./50.), was auch während meiner Zeit dort dazu führte, dass die Lehrer und anderes Personal für fast zwei Wochen streikten, um für bessere Bedingungen zu kämpfen. Es gibt, ohne Frage, krasse Unterschiede zwischen dem Bildungssystem dort und hier, ich hatte aber dennoch eine super Erfahrung an meiner Gastschule.

Amerikanisches Schulsystem: Angebote zur Persönlichkeitsentfaltung

Das lag vor allem an den „extra-curricular activities“, also dem, was neben Mathe, Englisch und Geschichte noch an der Schule passiert. Es gibt unendlich viele Klubs, Sportteams und Fächer, die man in Deutschland so nie bekommen würde, wie „Model United Nations“, Grafikdesign oder Journalismus! Ich hatte also im Schulalltag Zeit, an der Schülerzeitung, die wirklich gelesen und wertgeschätzt wurde, mitzuarbeiten. Meine Gastmutter ist schwarz und, um den Rassismus, Probleme und Hindernisse, mit denen sie zu kämpfen hatte, als weißer Teenager an einer Mittelklasse Schule besser verstehen zu können, bin ich der nationalen Schülervereinigung „Black Student Union“ beigetreten.

Ich habe auch Sport gemacht. Am meisten Spaß haben mir Cross-Country (Langlauf) und Track (Leichtathletik) gemacht. Jeden Tag nach der Schule 2-3 Stunden in der Hitze Arizonas zu trainieren war manchmal hart, dafür habe ich dort meine besten Freunde kennengelernt und sehr viele schöne Stunden verbracht. Nicht selten mussten wir über drei Stunden zu unseren Wettbewerben fahren, aber die Busfahrten haben immer Spaß gemacht. Eine Besonderheit des amerikanischen Schulsystems ist, dass es sehr viel Platz und Angebot für Persönlichkeitsentfaltung bietet. Man darf Dinge machen, an denen man Spaß hat, mit Menschen, die genau dasselbe fühlen.

USA-spezifische gesellschaftliche Themen

In meinem Auslandsjahr gab es viele tragische Schießereien, gerade an Schulen. Das Parkland-Shooting, bei dem 17 Menschen ums Leben gekommen sind und das eine nationale Protestwelle ausgelöst hat. Ein weiteres in Santa Fe, TX, bei dem, neben 9 Schülern, auch eine Austauschschülerin, die in wenigen Wochen heimreisen sollte, gestorben ist. Mir fällt es schwer, mir vor Augen zu führen, was diese Menschen erleben mussten. Die Vorstellung, dass Schüler zur Schule gehen und dort erschossen werden, ist so absurd und krank – aber traurige Realität. Es gibt Proteste gegen die jetzigen Waffengesetze und für eine stärkere Kontrolle von Waffenbesitzern, dennoch ist das Verbot von Waffen in den USA ein sehr wundes Thema.

Meine Gasteltern sind beide Demokraten, mein Gastopa, der auch mit uns lebt, ist durch und durch Republikaner. Er ist davon überzeugt, dass das Recht, eine Waffe zu besitzen, genauso wichtig ist wie die Meinungsfreiheit. Dennoch hat sich meine Mutter, nachdem Donald Trump Präsident geworden ist, selbst eine Waffe zugelegt. Der Grund: Selbstverteidigung. Ein Vorwand, der bis jetzt von Konservativen benutzt wurde, die den Waffenbesitz als notwendig einschätzten, um ihr eigenes Leben zu beschützen. Dies sollte eigentlich in einer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts kein Argument sein. Dennoch hatte meine Gastmutter sehr stichhaltige Gründe. In den Südstaaten gab es Kundgebungen des Ku-Klux-Klans, die sich ein weißes Amerika zum Ziel gesetzt haben. In vielen Städten weht noch immer die Flagge der Konföderierten Staaten, die der Sklavenhalter und Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg.  Auf dem Weg nach New Mexico habe ich diese immer noch rassistischen Staaten kennengelernt. Meine Mutter wurde angehalten und sofort gebeten, aus dem Auto auszusteigen und ihre Hände auf die Motorhaube zu legen, was in keiner Weise die Norm bei einer normalen Verkehrskontrolle ist, sondern den tief in der amerikanischen Gesellschaft verankerten Rassismus widerspiegelt.

Tucson ist eine Stunde von der mexikanischen Grenze entfernt, somit gibt es eine große hispanische Bevölkerung. Die Eltern meines besten Freundes kommen aus Mexiko und die Nähe des Landes erzeugt eine hohe kulturelle Vielfalt. In der Familie meines Gastvaters gab es eine Quinceañera, der 15. Geburtstag, der einen hohen Stellenwert hat und sehr groß gefeiert wird, auf der wir eingeladen waren. Also habe ich nicht nur die US-Amerikanische Kultur, sondern auch etwas von der mesoamerikanischen in meinem Auslandsjahr kennengelernt.

Ich hatte das Glück, in den USA mehr als „nur“ meinen Staat zu sehen. Meine Gasteltern reisen viel und gerne. Wir haben Alaska, Kalifornien, Utah, Washington State, Oregon, New Mexico und Mexiko besucht. Die USA sind ein großartiges Land mit fast jedem Klima und atemberaubenden Landschaften. Ich hatte die Chance, bereits viel, also fast die gesamte Westküste, zu sehen und bin dafür sehr dankbar.

Kulturelle Unterschiede

Ich hatte bis Juni Schwierigkeiten, Familiendynamik und Kommunikation meiner Gastfamilie zu verstehen oder ganz zu befolgen. In meiner natürlichen Familie, sowie in den meisten Familien in Deutschland, genießen die meisten Kinder eine relativ große Freiheit, die eigene Freizeit zu planen. Außerdem ist es in Deutschland möglich, mit Bus und Bahn von A nach B zu kommen. Es gab nur den Schulbus in Amerika, sonst musste ich fragen, um gefahren zu werden, was so nicht schlimm ist, aber doch spontane Planungen und Selbstständigkeit geringhält. Amerikanische Eltern nehmen auch gerne aktiv am Leben ihrer Kinder teil, bevor ich zu jemandem nach Hause konnte, mussten meine Gasteltern, die Familie erst kennenlernen. Treffen mit Freunden musste ich mindestens in der vorigen Woche bekannt geben, um Streit um meine Zuverlässigkeit zu verhindern. Meine Gastmutter hat ihr eigenes Geschäft und war oft sehr beschäftigt, mein Gastvater musste täglich vier Stunden pendeln, also ist diese sehr genaue Planung schon verständlich, aber im Umgang mit Freunden doch schwer zu erklären.

Ein Stück Kultur, was ich aus den USA gerne mitnehme und was mich sehr beeindruckt hat, ist, wie hart die Amerikaner arbeiten. Der Wettbewerb, um auf gute Unis zu kommen, fängt schon in der neunten Klasse an. Alle, die für die Schule spielen, sind sehr leidenschaftlich dabei. Überhaupt werfen sich Amerikaner gerne in Sachen hinein, die sie richtig finden. Manche verbringen ihre gesamte Freizeit damit. Was mir außerdem aufgefallen ist, ist, dass die Amerikaner oft einen ausgewogenen Blick auf die Welt an sich haben. Im Geschichtsunterricht haben wir viel über die chinesischen und indischen Dynastien und wie diese Länder von Europäern kolonialisiert wurden gelernt. Europäer neigen oft dazu, den eigenen Kontinent ins Zentrum allen Geschehens zu rücken.

Kultur ist so vielfältig

Sich seinem Land „verbunden“ zu fühlen ist ein schwieriger Ausdruck. Ein Land hat vor allem Menschen in sich und diesen Leuten fühle ich mich verbunden, nicht einem Staatsmythos. Jedoch kann ich auch Patriotismus verstehen. Dabei verstehe ich Patriotismus aber nicht als blinde Liebe zum eigenem Land oder gar „America first“, sondern sich dafür einzusetzen und stark zu machen, dass jeder in seinem Land gut leben kann. Menschsein ist das Einzige, was zählt. Jemanden nach seiner Herkunft zu beurteilen oder nur diese in einem Zeitungsartikel zu nennen, ist irrelevant. Kein Land und keine Kultur kann charakterisiert werden, sie sind so vielfältig, dass es schier unmöglich ist. Genauso kann es kein Urteil über Kulturen geben. Es gibt nichts Falsches, es ist höchstens anders oder ungewohnt.

Als Austauschschüler hat man eine einmalige Möglichkeit, Kultur und Menschen zu erleben und zu verstehen, und dabei Verbindungen zu knüpfen, die über Sprach- und konstruierte kulturelle Grenzen halten und Brücken bauen. Ein globales Netzwerk persönlicher Kontakte, die die Welt ein Stück näher zusammenbringen. Man kommt als unbeschriebenes Blatt in seinem Gastland an und hat die Chance, diese Erfahrungen zu machen und ein komplett anderes Leben zu führen. Ein Leben für zehn Monate in einem fremden Land und einer fremden Kultur.

Für dieses einmalige Erlebnis möchte ich mich bei meinem Stipendiengeber, dem Arbeitskreis Jugendaustauschorganisationen (AJA) und ganz besonders bei AFS interkulturelle Begegnungen, und allen Menschen und Gebern, die mir dieses Jahr möglich gemacht haben, sehr, sehr herzlich bedanken. Ich habe so viele Eindrücke und neue Erfahrungen sammeln dürfen, dass es mir schwer fällt, sie alle auszudrücken. Ein Austauschjahr, gerade in den USA, ist nicht günstig. Der AJA hat mir die notwendige Hilfe zur Seite gestellt und mir die beste Erfahrung meines Lebens geschenkt.

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