Gastfamilie Fischer, Argentinien, 2018:

Als unsere älteste Tochter sich Gedanken über ein Austauschjahr machte, stellte sich mir die Frage, wie selbstverständlich unsere Erwartungshaltung ist, dass eine fremde Familie unser Kind aufnimmt, ohne dass wir je darüber nachgedacht hatten, selber Gastfamilie zu werden.

Bei der Recherche unserer Tochter im Herbst 2017, wohin, wie lange und mit welcher Organisation es gehen sollte, stießen wir auf die Gastfamiliensuche von AFS und auf die Profile der jungen Menschen, die für 2018 eine Familie in Deutschland suchten. Nachdem mein Mann die Frage, ob er sich vorstellen kann, dass wir für ein Jahr ein Gastkind aufnehmen,  damit beantwortete, dass er dann seinen Arbeitsplatz  aus dem Gästezimmer in den Keller verlagern werde, und unsere 3 Kinder ebenfalls alle offen für ein weiteres Familienmitglied waren, vertieften wir uns in die Profile.

Schnell war klar, dass es ein Mädchen sein sollte, und um es uns nicht zu schwer zu machen, aus einem Land, das unserer Kultur nicht zu fremd ist. Ich empfand es auch als Sicherheit,  für alle Fälle zumindest Grundkenntnisse  in der Muttersprache des Gastkindes zu haben. Damit schränkte sich die Auswahl auf englisch-,  spanisch- oder französischsprachige Herkunftsländer ein.

Uns gefiel das Profil von Fio, einer 17jährigen aus dem Norden Argentiniens von Anfang an sehr gut, da sie sehr ausführlich ihren Alltag und ihre Interessen schilderte, auch deutlich wurde, dass sie sich mit ihrem Bewerbungsschreiben viel Mühe gemacht hatte. Außerdem hatte ihre Familie selber bereits mehrfach Gastkinder aufgenommen, weswegen sie auf jeden Fall verdient hatte, ebenfalls eine Gastfamilie im Land ihrer Wahl zu finden, und wir davon ausgingen, dass ihre Erwartungen an einen Austausch realistisch sind (was sich auch bestätigt hat – oft musste ich schmunzeln, wenn Fio sich sehr aus Gastfamiliensicht kritisch über die Anspruchshaltung ihrer Mitaustauschüler äußerte).

Zudem hatte ich selber vor 25 Jahren an einem gegenseitigen Schüleraustausch mit Argentinien teilgenommen und diese Zeit in sehr positiver Erinnerung, weswegen bereits eine Verbindung zu diesem Land besteht (meine beiden Gastbrüder sind nach ihrem Aufenthalt bei uns später zum Studieren nach Deutschland zurückgekommen und leben seither hier).

Fio hatte breitgefächerte Interessen und war offen für Neues, was ihr später auch das Einleben bei uns erleichterte. Da sie zuhause viele Wochenstunden mit Rollschuhkunstlauf verbrachte, was es bei uns in der Gegend einfach nicht gibt, bat ich AFS vor einer endgültigen Entscheidung, abzuklären, ob Fio ein Jahr ohne Rollschuhe leben kann. Fio erzählte uns später, dass sie auf ihrem Vorbereitungscamp vom Betreuer angesprochen wurde, es gäbe vielleicht eine Gastfamilie für sie, und dass sie zu allem Ja gesagt hätte. (Glücklicherweise fiel es ihr tatsächlich leicht, ihre Freizeitgestaltung den Angeboten bei uns anzupassen, und sie war regelmäßig im Volleyball, im Fitnessstudio und gelegentlich in einer Jugendgruppe).

Nachdem wir uns nun für Fio und sie sich (in diesem Fall, normalerweise werden die Kids wohl nicht gefragt, aber für uns war es wichtig gewesen, vorher sicher zu sein, dass die Bedingungen auch für das zukünftige Gastkind passen) für uns entschieden hatte, waren noch 3 Monate Zeit, in denen wir gelegentlichen Whatsappkontakt hatten und viele Bilder hin- und herschickten und klären konnten, dass Fio bei uns nicht verhungern wird, wenn sie keinen geschmolzenen Käse und somit keine Pizza isst (später erzählte sie, ihr Vater habe ihr davon abgeraten, in die Bewerbung zu schreiben, sie möge keine Pizza- nicht, dass alle denken, sie sei merkwürdig).

Zeitgleich hatte sich unsere Große für 2 Monate Neuseeland entschieden,  was wenn sie angenommen würde, dazu führen würde, dass wir im Winter 18/19 für 2 Monate eine siebenköpfige Familie würden.

Ende Februar kam Fio dann mit dem ICE in Karlsruhe auf dem Bahnhof an, das Erkennen war kein Problem, da wir sie ja vom Foto kannten. Die Verständigung lief am Anfang hauptsächlich auf Englisch, da Fio noch kein Deutsch konnte, was aber dank Deutschkurs und Schulalltag und ihrem Lernwillen schnell besser wurde. Dennoch waren wir dankbar über eine gemeinsame Sprache richtige Unterhaltungen führen zu können und uns Dinge erzählen zu können. Nicht zu Unrecht protestieren da aber unsere 2 Kleinen, die dann nichts verstanden, weswegen wir häufig in den Unterhaltungen immer wieder die Sprache wechselten.

Fio war von Anfang an unkompliziert und präsent im Familienalltag, wenn sie Dinge nicht verstand, fragte sie nach, und da sie oft nichts Dringendes zu erledigen hatte, war sie sicher dasjenige der Kinder, das am meisten im Haushalt geholfen hat. Und ich bin sicher, wenn ich sie darum gebeten hätte, hätte sie noch mehr getan. Wir erlebten Fio als freundliches, hilfsbereites, ausgeglichenes Mädchen.

In der ersten  Woche waren unsere 2 Kleinen (5 und 9 Jahre alt) durch die veränderte Konstellation ziemlich aufgekratzt, was sich aber bald einspielte. Schnell merkten die beiden, dass da jemand ist, der oft ungestresst ist und Zeit hat mit ihnen zu spielen, was auch immer wieder in Anspruch genommen wurde. Im Verlauf des Jahres trug es die große Schwester mit Fassung, dass vor allem der Kleinste sich öfter Fio zuwendete als ihr, da diese ihm einfach mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmete.  Wir empfanden es auch als Vorteil kleinere Kinder in der Familie zu haben, da mit diesen die jahreszeitlichen Feste noch viel bewusster wahrgenommen und begangen werden. So konnte Fio z. B. Ostereier färben und suchen oder an Halloween ihren ersten Kürbis schnitzen und mit den Kleinen losziehen. Selbstverständlich wurde auch die Chance genutzt einen Schneemann zu bauen.

Ein sicherlich glücklicher Umstand war, dass Fio und unsere Älteste sich mit ihren knapp 2 Jahren Altersunterschied von Anfang an sympathisch waren und Fio sich gut in ihren Freundeskreis einfügte. Fio baute sich zudem über ihre Jugendgruppe (in der keins unserer Kinder ist) und den Freund, den sie nach ein paar Monaten hatte einen weiteren Freundeskreis auf. Als unsere Große dann im Sommer tatsächlich  für 2 Monate nach Neuseeland ging, war Fio so integriert, dass  auch die Sommerferienwochen für das Gastkind  nicht langweilig wurden. So war sie mit Klassenkameraden am Bodensee,  mit AFS in Berlin und mit uns im Urlaub.

Für ihren 18. Geburtstag im Juli hatten wir den 5 Stunden entfernt wohnenden deutschen Gastschüler, mit dem sie sich im Jahr davor in ihrer Heimatstadt angefreundet hatte, als Überraschungsgast eingeladen. Ihre Freude über das Wiedersehen war ein Moment wie aus “ nur die Liebe zählt“, einer der emotionalsten Momente des Jahres, bei dem reichlich Freudentränen floßen. Die es dann bei der von ihren Klassenkameraden organisierten Überraschungsparty gleich nochmal gab.

In diesem Fall war die Vorgabe der Schule Fio für das erste halbe Jahr mit unserer Tochter in Klasse 10 (zuhause hatte sie bereits 12 Schuljahre hinter sich) zu stecken, eine gute Entscheidung gewesen, da sie in der Klassengemeinschaft ankommen konnte und dann nach den Sommerferien für Klasse 11 ihre Kurse wählen konnte.

 

Wir haben in diesem Jahr unsere Umgebung bewusster wahrgenommen (immer im Bewusstsein, dass es für Fio alles neu ist), daheim etwas mehr auf einen harmonischen Umgangston geachtet und sehr viel unternommen, da wir uns für Fio gewünscht haben, dass sie in diesem Jahr viele neue Erfahrungen (z.B. segeln oder Klettergarten) macht und die Chance hat, etwas von Deutschland und Europa zu sehen, so waren wir neben Zielen unserer näheren Umgebung in Paris, in Neuschwanstein – wo Fio im Dirndl, das sie an diesem Tag passend zur Kulisse trug, mehrfach von Touristen als typisch deutsches Mädchen fotografiert wurde-, am Bodensee, in Italien, in Kärnten und im Winter in den Alpen zum Schifahren. Fio war mit AFS in Berlin, mit unserer Großen in Amsterdam und selbstständig in allen näheren Universitätsstädten (Tübingen, Heidelberg, Ulm, Konstanz, Freiburg). Die gemeinsamen Unternehmungen waren dann trotz Stress und Kosten – z. B für ein Wochenende Schisachen für die Großfamilie packen – immer wieder schön. Zum Schiwochenende meinten unsere Kleinen, das sei wie Urlaub und wir sollten es öfter machen.

An diesem Wochenende waren wir übrigens schon zu siebt, seit 2 Wochen ist jetzt die 16jährige etwas zurückhaltendere Jemma aus Neuseeland in unserer Familie, die sich ebenfalls gut einfügt, da unsere Große sie bereits vom ersten Teil des Aufenthaltes kennt und schon klar war, dass sie sich mögen, zudem Jemma genug Deutschkenntnisse mitbringt, um von den Kleinen zum Dauer-Uno-spielen verpflichtet zu werden.

Fios Rückflug geht nun in einem Monat. Sie wird eine große Lücke hinterlassen,  nicht nur, weil dann keiner mehr Gnocchis kochen kann, sondern weil sie in diesem Jahr Teil der Familie geworden ist. Unser Kleiner kann sich nicht mehr an eine Zeit ohne Fio erinnern, unsere Mittlere möchte noch tausend Dinge mit ihr tun, und die Große plant in Gedanken schon den Gegenbesuch in Argentinien.

Zu Weihnachten bekommen die Mädchen Karten für’s Musical Evita, Fio wird einen Bezug zum Inhalt haben und Jemma ist ein Fan von Musicals. Damit wird diese sehr internationale Zeit fürs uns zu Ende gehen. Wir werden Fio, unser Jahreskind, sehr vermissen. Und es ist zu befürchten, dass der Abschied von Jemma nach 8 Wochen Zusammenleben ebenfalls traurig wird.

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