Yiwen, China, 2009

Ich weiß schon immer, dass die Zeit ganz schnell vorbei geht. Ich kann es kaum glauben dass ich schon zehn Monate in Deutschland bin. Nun ist leider schon der Zeitpunkt gekommen an dem mein Austauschjahr so langsam dem Ende entgegen geht. Es sind keine zwei Monate mehr bis zur Rückreise und die Zeit wird sicherlich wie im Fluge vergehen.Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich bei der Ankunft in Frankfurt am Flughafen nicht so aufgeregt wie die anderen war. Nicht wegen der Müdigkeit, verursacht durch die letzten 11 Stunden Flug, sondern einfach weil ich nicht glauben konnte, dass ich schon in Deutschland war. „Bin ich jetzt wirklich schon in Deutschland? Oder ist alles nur ein Traum?“ Als ich aus dem Flughafen trat, die erste frische Luft von draußen einatmete und die Freiwilligen sah, die alle blaue T-Shirts mit dem Zeichen „AFS“ trugen, war ich sicher dass es Realität war! „Yeh!! Ich bin in Deutschland. “sagte ich mir. Ich wusste auch, dass hier mein Abenteuer anfing.

Mit meinem Stipendium habe ich einen Platz in Heidenheim bekommen. Es ist die Heimatstadt des Gründers der Firma Voith und liegt in der Nähe von Ulm, der Heimat Einsteins. Zurückblickend auf die Tage, die ich in Deutschland verbrachte, steht mir alles wieder klar vor Augen! In diesem Zeitraum von fast einem Jahr habe ich viel über Land und Leute gelernt. Viel mehr als das, was in Google steht: pünktlich, penibel, direkt, emsig u.s.w. Was habe ich über die deutsche Geschichte und Politik erfahren? Folgende Begriffe kommen mir als erstes in den Sinn: Römisches Reich , Reformation, Preußen, Erster Weltkrieg, Kaiserreich, Zweiter Weltkrieg, Besatzungszeit, Bundesrepublik Deutschland, Deutsche […]

Midstay in Berlin

Während meines Midstays in Berlin und eines Wochenendes habe ich zwei Konzentrationslager (eines in Oranienburg, eines in Dachau) besichtigt. Die Buchstaben auf der Eisentür sind ein Wahrzeichen aller KZs „Arbeit macht frei.“ Die Ausstellungen […] zeigen den Touristen, die unaufhörlich kommen das Leben […] im Lager. […]Ich bin entsetzt über diese schrecklichen Geschehnisse. Aber zur gleichen Zeit bin ich auch erstaunt, welchen großen Mut die Deutschen haben, die Wahrheiten von der dunklen Vergangenheit der Geschichte ohne Vorbehalte vor der ganzen Welt zu zeigen. Das zeigt auch, dass die Deutschen schon viel nachgedacht haben. Die Deutschen haben ein Bewusstsein für ihre Vergangenheit entwickelt. Ich schätze die ehrliche Haltung der Deutschen.

Zu Ostern feierte der Gastgroßpapa seinen 85. Geburtstag zwei Monate nach seinem richtigen Geburtstag. Das ist auch eine Gewohnheit in Deutschland, dass man einen Geburtstag nach dem eigentlichen Geburtsdatum feiert. Im Gegensatz dazu bedeutet es in China Pech oder Unglück, wenn man seinen Geburtstag später als das Geburtsdatum feiert. In China wird in meiner Familie nur viel Zeit damit verbracht ein schönes Geschenk auszuwählen weil es normalerweise wertvoll und bedeutungsvoll sein sollte. Dieses Mal entsteht ein neues Bild vor meinen Augen: Proben eines kleinen Orchesters und eines kleinen Chors. Jeder meiner Gastfamilie nutzte die Zeit nach der Arbeit oder nach der Schule nicht zum Entspannen, nicht zum Lernen, sondern um die Stücke, welche sie an Großpapas Geburtstagsfeier vorspielen würden, zu üben. An den Abenden in der Woche vor dem Vorspiel konnte man bei uns immer „Musik Abende“ genießen. Der Gastpapa hat sogar ein vier Seiten langes Gedicht für Großpapa verfasst. Ich finde das eine sehr gute Idee, so etwas kann ich ja später in Shanghai bei Familienfeiern auch mal probieren. Nicht nur essen, reden oder Mah-Jongg spielen.

Man muss seine Meinung zeigen

Wenn ich einem neuen Austauschschüler Erlebnisse oder Erfahrungen aus meinem Jahr erzählen müsste, würde ich Folgendes sagen. Zuerst würde ich betonen, was am Anfang sehr schwierig für mich gewesen ist :“die direkte Art“! Ich denke, zu den Deutschen muss man immer geradeheraus sein. Egal was, frage! Besprich alles! Du musst deine Meinungen einfach deutlich zeigen. Die Deutschen halten die Ehrlichkeit auch als eine sehr wichtige Tugend. Das wird für Neulinge bestimmt eine der größten Schwierigkeiten sein, weil die Beziehungen und Denkweise bei uns Chinesen einfach so kompliziert sind. Wenn man nur einen Satz sagen möchte, sollte man vorher schon darüber nachdenken, ob er jetzt höflich oder sinnvoll ist. In den ersten zwei Monaten würden manche Austauschschüler starkes Heimweh haben. Alles ist neu, alles muss man allmählich lernen und versuchen sich daran zu gewöhnen. Bei Vielen kann es passieren dass sie an zwei oder drei aufeinander folgenden Tagen, mit ihren Eltern in China telefonieren oder über Skype sprechen. Ich würde empfehlen dies nicht zu tun. Ohne Eltern selbstständig zu leben ist ein Lernprozess. Dies ist auch eine Erfahrung, die wir “Leseratten“ in China kaum erleben können. Es gehört zu dem Austauschjahr und das muss man schaffen! Vergiss die Sachen in deiner Heimat, nach 10 Monaten kriegst du sie ja alle wieder. Aber die Zeit, die du in Deutschland verbringen wirst, wird wahrscheinlich nie wieder zurückkehren. […]

Jeder freut sich natürlich darauf ,in die Heimat’ zurück zu kehren. Ich lasse Deutschland auch nicht aus meinem Kopf und Herzen. Was werde ich am meisten von Deutschland vermissen? Oh! Das ist hart vorzustellen dass sich mein Umfeld in 3 Wochen total verändert haben wird! Meine Gastfamilie, meine Freunde (tolle AFSer, die Deutschen in- und außerhalb der Schule),die jetzt so in der Nahe von mir sind, werden alle weit Weg sein. Zwar werde ich zu Hause in China wieder 3 mal am Tage warmes Essen bekommen, trotzdem werde ich Butterbrezeln, Kässpätzle, Obstsalat, Currywurst mit Pommes (mit Mayonnaise) , Raclette, Maultaschen mit Eier angebraten und Rinderrouladen vermissen! Bisher habe ich meine Entscheidung, ein Jahr nach Deutschland zu gehen, nicht bereut. Es ist eine fantastische Erfahrung, die ich nie vergessen werde! Deutschland, ich liebe dich! Du bist meine zweite Heimat!

Yiwen aus China, 2009

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