Yolanda, Argentinien, 2022, AFS-Stipendium Engagiert im Sport
Ich habe hier ein Zuhause
Argentinien im Dezember 2022: Hunderte Erwachsene, Jugendliche und Kinder weinend vor den Fernsehern. Immer im Wechsel wegen Freude und Angst. Der letzte Elfmeter des WM Finales war wohl der entscheidendste Moment meines Auslandsjahres. Für mich ging es neben dem Sieg des WM Pokals auch darum, ob ich nach einer möglichen Niederlage in einem Land leben werde, in dem die nächsten drei Monate eine kollektive Niedergeschlagenheit und Enttäuschung herrscht. Mit dem entscheidenden Treffer des Elfmeterschießens durfte ich nun eine Freude eines Landes erleben, wie Ich es mir nicht vorstellen konnte. Neben hunderttausend Menschen auf den Straßen hier in der Santa Fe, wo Ich lebe, bis hin zu mehreren Millionen in der Hauptstadt Buenos Aires. Nach vielen Freudentränen, Gebrüll und Festen kann ich nun behaupten, dass keinem anderen Land der Sieg der WM so viel bedeutet wie dem fußballverliebten Argentinien.
Jetzt, nach fast fünf Monaten in Argentinien, ist es unglaublich, auf solche Momente zurückzublicken. Erst die Anreise, dann die ersten Wochen und jetzt nach fast einem halben Jahr die Erkenntnis, dass ich nicht nur zu Besuch bin, sondern hier ein Zuhause habe. Eine Familie, Freunde und mich alleine in einer zunächst fremden Stadt zurechtfinde.
Stereotypen
In mein Auslandsjahr bin Ich mit ein paar Stereotypen gestartet: In Argentinien wird viel Fleisch gegessen, den ganzen Tag Mate getrunken und am Wochenende wird Asado mit der Familie gemacht und ein Kuss auf die Rechte Wange, sowie viel Körperkontakt ist üblich.
Und obwohl man nicht davon ausgehen sollte, dass alle Stereotypen auch wahr sind, haben sich gleich in den ersten Wochen alle diese Punkte bestätigt. In meiner Gastfamilie esse Ich zweimal am Tag Fleisch, Mate wird zu jeder Tageszeit getrunken und am Wochenende kommt die Familie zu einem großen Abendessen zusammen und es wird Asado gegessen. Das Essen und die Umstrukturierung meines Alltags waren dabei zunächst – und sind noch immer- die größten Umstellungen. Kein Frühstück zu essen und dafür zwei Mal am Tag Fleisch und spät ins Bett zu gehen, um dann mittags zwei Stunden Schlaf aufzuholen, waren für mich erstmal ungewohnte Veränderungen. Aber Veränderungen wie diese kann man nicht anpassen oder nicht nicht akzeptieren. Sie sind Teil der Kultur. Mit der Zeit und mit etwas Geduld sind diese Veränderungen zu meinem Alltag geworden. Die Veränderungen im Ausland sind wie kleine, neue Gewohnheiten, die man sich über die Zeit aneignet.
Eine Schwierigkeit und eine Umstellung, mit der Ich nicht gerechnet habe, ist, dass mein Alltag in Argentinien weniger voll ist, mit weniger Aktivitäten. Weil ich aus einer gut vernetzten Großstadt komme, war mir nicht bewusst, dass hier in einer mittelgroßen Stadt in Argentinien die Busse das einzige Verkehrsmittel sind. Im ersten Monat konnte ich nicht den Bus nehmen, da beispielsweise nicht alle Haltestellen markiert sind und wegen der Unzuverlässlichkeit eine Grundlage in Spanisch und eine Grundidee der Stadt hilfreich sind. Meine Gastmutter (eine alleinlebende Frau) musste mich also zur Schule, zu Verabredungen und zum Fußballtraining fahren. Jetzt wo ich alleine mit dem Bus zurecht komme ist es leichter, aber noch immer gibt es Momente, wie zum Beispiel spät Abends, wenn die Busse nicht mehr fahren, in denen meine Gastmutter keine Zeit hat und ich Verabredungen absagen muss oder an diesen Abenden nichts machen kann. Viele haben das Bild, dass du durch dein Auslandsjahr unabhängig und selbständiger wirst, auch wenn das im Nachhinein stimmen mag, bedeutet dies allerdings nicht, dass du während deines Auslandsjahr unabhängig und selbständig tun kannst, was du willst. Ich habe gelernt, meine Bedürfnisse zu kommunizieren, auch wenn ich die Sprache nicht sprechen konnte oder habe trotz Sprachbarriere Freunde gefunden, aber meinen Alltag zu organisieren, mich mit meiner Gastmutter abzusprechen, ist aufwendiger als in Deutschland.
Da ich sehr selbständig aufgewachsen bin, war es schwierig den Schritt zu gehen und zu sagen: Ich kann heute nicht an einen Ort fahren, weil ich zum Beispiel nicht alleine mit dem Bus in der Nacht zurückfahren darf. Das kostet Überwindung und stellt noch immer eine Schwierigkeit dar. Was ich lernen musste, ist, dass es nicht an mir liegt oder an dem Fakt, dass ich nicht aus Argentinien komme. Vielmehr stellt das den Alltag aller Jugendlichen und besonders das der Mädchen hier dar.
Entwicklung der Sprachkenntnisse
Das alleine Navigieren hängt auch eng mit der Entwicklung der Sprachkenntnisse zusammen. Ich bin bin keinerlei Spanisch Kenntnissen ins Ausland gefahren, dafür aber mit riesiger Vorfreude Spanisch hier vor Ort zu lernen. Die Frage, die mir vor meinem Auslandsjahr am häufigsten gestellt wurde, ist: “Aber sprichst du denn Spanisch oder hattest du Spanisch in der Schule?”. Und immer wieder habe Ich geantwortet: „Nein, ich kann kein Wort Spanisch sprechen, aber Ich weiß, dass ich in der Lage bin, die Sprache in Argentinien zu lernen und eben dies ist ein Grund warum ich fahre”. Und genau zu dieser Antwort stehe ich noch immer. Natürlich war es zunächst eine Hürde und es wäre einfacher gewesen, hätte ich grundlegende Kenntnisse gehabt. Aber von Anfang an wollte ich diese Hürde bewältigen. Aus dem Umstand, nicht fließend sprechen zu können und gezwungen zu sein, erst einmal zuzuhören, habe ich unfassbar schnell gelernt. Da in meiner Familie niemand Englisch spricht, haben wir mit Händen und Füßen kommuniziert und als Hilfestellung konnte ich Sätze mit dem Handy übersetzen.
Und eins meiner wichtigsten Erlebnisse hier war der Tag, an dem ich das erste Mal beschlossen habe, keine Wörter mit dem Handy zu übersetzen, sondern alles mit den wenigen Kenntnissen, die Ich hatte, selber zu formulieren. Eine kleinen Moment der Freunde empfinde ich noch immer, wenn ich mit einer einheimischen Person spreche, die total überrascht ist, weil ich nicht nur argentinisches Spanisch spreche (Castellano), sondern auch noch mit dem Dialekt der Region. Und es ist ein wunderbares Gefühl, Spaß daran zu haben, eine Sprache zu lernen, die Ich an so vielen Orten der Welt nutzen kann. Und noch dazu im Alltag die Sprache lernen, durch zuhören, ausprobieren und ganz wichtig: nachfragen und korrigieren lassen. Jeden Tag schnappe Ich neue Wörter auf und bilde mir meinen eigenen Wortschatz. beispielsweise ist ein großer Unterschied zum Schulspanisch, dass ich als erstes die Jugendwörter gelernt habe.
Aspekte der Kultur
Sowie die Jugend hier eigene Wörter benutzt, gibt es Dinge, die sich stark von denen in Deutschland unterscheiden. Zum Beispiel wird die beliebteste Musikrichtung „Reggaeton“ der Jugendlichen hier nicht nur von der Jugend, sondern von allen Personen jeden Alters gehört. Weil ich die beliebtesten Lieder mittlerweile kenne, Ein weiterer großer Unterschied ist, dass es hier große organisierte Feiern gibt, die einem Club ähneln, aber ab 15 Jahren sind. Was für mich daran überraschend war, ist, dass dies von den Eltern sehr unterstützt wird. Die Jugendlichen organisieren Fahrgemeinschaften und werden dann zu den Feiern hin gebracht und auch um 6 Uhr morgens wieder abgeholt. Der Kleidungsstil unterscheidet sich stark von dem in Deutschland, was vor allem daran liegt, dass es nicht die gleichen Fast Fashion Mode Brand gibt wie in Europa. Was mir allerdings aufgefallen ist, ist dass viele Jugendlichen allgemein zwar weniger Klamotten besitzen, dafür aber eine sehr große Rolle spielen und zu verschiedenen Events mit Bedacht ausgewählt werden. Zum Beispiel zu den riesigen fünfzehnten Geburtstagen “quinces” werden formale Dinge wie Abendkleider, hohe Schuhe, Jackets und Hemden getragen.
Und all diese Erfahrungen und Erlebnisse, die Ich hier erlebe, habe ich der Unterstützung der Karl-Heinz Frenzen-Stiftung und deren Unterstützung durch das “ Engagiert im Sport Stipendium“ zu verdanken. Immer wieder halte Ich kurz inne und realisiere, wie dankbar ich bin, das alles erleben zu dürfen, und dazu zählen sowohl die negativen, als auch die positiven Erfahrungen, die Ich hier in Argentinien sammele.
Ich hoffe, dass viele weitere Jugendliche den erstmal angsteinflößenden Schritt gehen und sagen, dass sie sich für ein Jahr auf Entdeckungsreise begeben. Aber allen sollte bewusst sein, dass man bei einer Entdeckungsreise nie wissen kann, was einen erwartet und deshalb vorher keine Erwartungen oder große Träume sinnvoll sind. Denn egal wo du landest, wie deine Gastfamilie ist und ob du eine kleine oder eine große Freundesgruppe findest, wirst du durch alle deine persönlichen Erlebnisse die schönsten Erinnerungen schaffen.
Die Zeit rennt, und das Wichtigste für mich ist, die verbleibenden sechs Monate voll zu genießen. Das schönste für mich, und was ich allen anderen wünsche, ist das Gefühl, erst eine andere Kultur kennenzulernen, dann aber auch gewissermaßen selber Aspekte dieser Kultur anzunehmen und für sich zu entdecken. Zum Beispiel werde ich sicherlich auch nach meinem Auslandsjahr weiterhin Mate trinken.