Uwe Friesel (USA 1955/56)

San Francisco und danach

AFS Alumnus Uwe berichtet über sein Austauschjahr in den USA

Als ich mich im Jahre 1955 als jüngster Aspirant um ein Stipendium des American Field Service bewarb und meinem Vater davon erzählte, sagte der zu meiner Mutter: „Wo will er hin? USA? Nun ist unser Sohn übergeschnappt!“

Doch hinter seinem Rücken hatte ich bereits heimlich an einem Bewerbungsgespräch teilgenommen und einen Aufsatz geschrieben, der dem American Field Service offenbar gefiel. Brieflich teilten sie mir mit, ich stünde auf der Auswahlliste, doch seien im Zweifel ältere Bewerber vor mir an der Reihe. Zwei Wochen später erreichte mich ein zweiter Brief: jemand sei zurückgetreten und ich könne seine Stelle einnehmen. Ob mir San Francisco gefallen würde?

Angesichts dieser offiziellen Mitteilung musste mein Vater klein beigeben, und es war nur noch eine Frage der richtigen Reisevorbereitung und -kleidung. Wie fährt man nach Amerika? Sicherlich nicht in Lederhosen. Doch Jeans gab es noch nicht. Also Knickerbocker.

Der Dampfer „Arosa Kulm“, der mich in Bremerhaven erwartete, war nicht gerade ein Luxusliner, doch da ich noch nie vor einem so großen Schiff gestanden hatte, kam er mir und den vielen anderen Stipendiaten wie die Titanic vor. Zum Glück rammten wir, nach Durchqueren der Nordsee bei mittlerem Seegang gen Montreal schaukelnd, keinen der Eisberge, die in einiger Entfernung an uns vorbeitrieben, und erreichten sicher den St. Lorenz-Strom. Im Nachtzug fuhren wir dann nach New York, wo wir von Stephen Galatti herzlich willkommen geheißen wurden. Auf Amerikanisch, das sich deutlich von unserem Schulenglisch unterschied. Anschließend mussten wir noch auf Ellis Island unsere Gesundheit und unsere Pässe überprüfen lassen.

Am nächsten Tag, nach einem fremdartigen Frühstück – Pancakes, Ahornsirup und Eiscreme – ging’s weiter mit dem Flugzeug. Mein erster Flug! Ich landete zunächst in Los Angeles, stieg dort in eine vergleichsweise winzige Propellermaschine um und flog enorm tief durch das Death-Valley zum Flughafen Oakland, wo mein Gasteltern, foster mother und -father Langley, mit einem riesengroßen Oldsmobile auf mich warteten. Nach hugging and kissing chauffierten sie mich über eine atemberaubende doppelstöckige Brücke nach Frisco-Stadt, zunächst nordwärts an der Küste entlang, bis wir vor einer weiteren Riesenbrücke namens Golden Gate über Serpentinen einen Villenvorort am Telegraph Hill erreichten. Hier, mit Blick auf den Pazifik, in einem weiß- und cremefarbenen Einfamilienhaus, würde ich also für ein ganzes Jahr wohnen? Es war traumhaft. Unglaublich.

Und dann der völlig andere coed-Schulunterricht mit den spaßigen Schulhof-Pausen (rallies). Hier regierte Dave Matroni, ein baumlanger Basketballspieler, als Pausenclown und Moderator. Staunenswert die gigs des Schulorchesters, das Swing und Beethoven spielte. Das football squad mit den wattierten Schultern! Die professionellem theatre-workshops! Lincoln High, eine Ganztagsschule mit meist weiblichen Lehrkräften und exzellenten Englischkursen, von denen ich fünf verschiedene belegte, war ein melting pot für Immigranten-Kinder. Die Schule war zwar nur per Straßenbahn und Bus zu erreichen, doch mein Pflegevater hatte öfter geschäftlich downtown zu tun – to sit on a house, wie es im Hausmakler-Slang heißt – und nahm mich mit.

Wirklich und wahrhaftig: fünfmal Englisch, mit wechselnden Schwierigkeitsgraden. Wegen unserer diversen Herkunftsländer sprachen wir alle mit Akzent. Quasi nebenbei bekamen wir etwas Wichtiges mit auf den Weg: Kommunikation und Toleranz. Miss Eklund, die Englischlehrerin, war eine ältliche Dame mit einem Dutt. Böswillige bezeichneten sie als spinster. Dabei glühte sie vor Enthusiasmus, wenn sie Shakespeare, Byron oder Wittman rezitierte. Ob meines Interesses lud sie mich ein, an einem Wettbewerb im Rahmen von Young America Sings teilzunehmen. Ich reichte folgendes Gedicht ein – in Kalifornien wohl besonders exotisch:

WINTERNIGHT

A thousand silver crystals twinkle
on bare black trees that tower in the air
No move,
no stir
no snowfall blur
disturbs the numb
and bright
and glittering
moonlight glare

…erfolgreich, denn es wurde 1956 in die besagte Anthologie aufgenommen, mehr noch, führte zu dem Angebot, ein Jahr lang kostenlos an der UCLA zu studieren. Dazu kam es jedoch nicht, denn wir mussten nach Abschluss unseres AFS-Aufenthalts in die jeweiligen Heimatländer zurückkehren.

Jahrbuchseite des AFS Alumnus von 1956

Am Ende meines Amerikajahrs erwies mir Lincoln High noch die Ehre, das Jahrbuch Round Up 1956 grafisch gestalten zu dürfen und die Schach-AG als Mitglied der Schulmannschaft zu beenden, mit einer kleinen Rössl-Brosche zum Andenken. Die besten Spieler waren die Söhne von russisch-jüdischen Immigranten, von denen einer, Arie, mein Freund wurde. Er lud mich zum Purim Fest ein, bei dem ausgelassen gefeiert und koscher gegessen wurde. Wie sich zeigte, spielte Arie ebenso gut Geige wie Schach.

Mein Leben wirklich verändert haben jedoch die Englischkurse von Mrs Eklof. Ich bin Schriftsteller geworden. Meine Vorbilder waren weltbekannte Autoren wie Vladimir Nabokov und John Updike. Ihre schwierigste Romane übertrug ich für Rowohlt ins Deutsche und lernte dabei beide persönlich kennen.

Später durfte ich als Mitglied der jeweiligen deutschen Delegationen auf internationalen PEN-Kongressen in Helsinki, Rio, Dakar und anderswo die Redebeiträge der Präsidenten Walter Jens und Martin Gregor-Dellin übersetzen: denn die konnten zwar Griechisch und Latein, aber kein Englisch. Auch die Mitgründung und zeitweise Leitung der beiden internationalen Schriftsteller-Zentren auf Rhodos und in Visby/Gotland wurde nur durch meine Sprachkenntnisse möglich. Dort habe ich auch meine schwedische Lebensgefährtin Birgitta kennengelernt.

Seither bin ich so vielen interessanten Menschen begegnet, dass allein die Namen ein Notizbuch füllen würden. Oft wünsche ich, ich hätte dieses Notizbuch tatsächlich angelegt.

 

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