Lucy, Argentinien, Schuljahr 2023, Lateinamerika-Stipendium
Vorab würde ich mich gerne bei meinem Stipendiengeber für das „NRW-Lateinamerika-Stipendium“ herzlich bedanken. In diesem Bericht werde ich über die kulturellen Unterschiede zwischen Argentinien und Deutschland sprechen sowie meine bisherigen Erfahrungen darstellen.
Kulturelle Unterschiede
„An unserem Tisch ist immer noch ein Platz frei.“ Diesen Satz lernte ich bereits innerhalb der ersten Woche in Argentinien kennen. Ich werde ihn nie vergessen, denn er bringt das argentinische Zusammenleben auf den Punkt. In Argentinien sind die Menschen sehr gesellig. In meiner argentinischen Familie ist das Haus nie leer. Entweder kommen die Großeltern, Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen oder Freunde zu Besuch. Zusammen werden dann riesige Asados vorbereitet, bei denen jeder etwas mitbringt und beiträgt.
Als mir das Asado zum ersten Mal erklärt wurde, dachte ich zunächst, dass es sehr ähnlich zum deutschen Grillen sei. Als meine argentinische Familie dann jedoch das erste Mal ein Asado vorbereitet hat, war ich über das Ausmaß an Fleisch und über die Spontanität überrascht. Es wurden die verschiedensten Sachen gegrillt von Rinderrippen bis zu Steaks und Würstchen und es kamen immer mehr Gäste. Da die Argentinier die Asado-Öfen auch innerhalb des Hauses haben, finden die Asados regelmäßig statt, egal ob es Sommer oder Winter, Wochenende oder unterhalb der Woche ist. Im Vergleich dazu findet in Deutschland das typische Grillen eher zu besonderen Anlässen und in der Regel nur im Sommer und draußen statt.
Das Gleiche gilt für die Merienda in Argentinien. Eine Merienda entspricht am ehesten dem deutschen Kaffee und Kuchen, findet jedoch täglich am Nachmittag statt. Anstatt Kaffee gibt es dann Mate-Tee, der aus Yerba-Blättern aufgegossen wird, und anstatt von Kuchen gibt es Facturas, welche Teilchen mit Pudding, Mini Croissants, Käse- und Blätterteiggebäck ähneln. Im Sommer wird statt heißem Mate-Tee Terere getrunken. Hierzu gießt man kalten Orangensaft auf die Yerba-Blätter.
Für mich persönlich ist die Merienda eine tolle Routine im Alltag, da sich sogar die Teenager fast täglich zu einer Merienda treffen und zusammen erzählen, Mate trinken und Facturas oder Selbstgebackenes essen. Sobald einer meiner Freunde in der Gruppe fragt, ob wir nicht eine Merienda haben sollten, wird direkt geplant und überlegt, wer was mitbringt, backt oder kauft. Das ist wirklich sehr schön!
Auch innerhalb der Familie spielt die Merienda eine große Rolle. Ich erinnere mich an eine Prüfungsphase, in der ich zahlreiche Präsentationen für die Schule vorbereiten musste. Ich habe mich mit meiner Gastmutter zusammengesetzt und wir haben gemeinsam Mate getrunken und an unseren Sachen gearbeitet, was uns beide sicherlich nähergebracht hat. In Deutschland hingegen ist das typische Kaffee und Kuchen eher eine Wochenendbeschäftigung mit Familie und Freunden, die man eher selten sieht.
Schulleben
Hier in Argentinien bin ich auf einer privaten Schule, die einzügig ist. Sie beinhaltet einen Kindergarten, eine Grundschule und auch die weiterführende Schule. Das heißt, dass sich die Kinder schon seit dem 3. Lebensjahr kennen und miteinander aufwachsen. Ich habe wahrgenommen, dass hierdurch innige und lebenslange Freundschaften entstehen. Meine argentinische Klasse besteht aus nur 15 Schülern. Hieraus resultiert die enge Klassengemeinschaft.
Auch die Schüler und die Lehrer haben hier eine sehr enge Beziehung. Dies ist darin begründet, dass die Lehrer die Schüler seit klein auf begleitet haben. Am Anfang war ich überrascht, wie die Schüler mit den Lehrern kommunizieren: Sie sprechen sich mit den Vornamen an und unterhalten oftmals eine freundschaftliche Beziehung. Anders als in Deutschland wird so teilweise auch geduldet, wenn Schüler im Unterricht mal ihr Handy verwenden. An meiner deutschen Schule wäre das unvorstellbar, denn sobald ein Telefon benutzt werden würde, hätte es abgegeben werden müssen. In Deutschland entsteht in der Regel nicht so eine enge Beziehung zwischen Lehrern und Schülern. Dies liegt u.a. auch daran, dass die Jahrgangsstufen viel größer sind und die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Schülern sich häufig nur auf ein Jahr beschränkt.
Freunde
Bevor ich nach Argentinien geflogen bin, habe ich mir einige Gedanken darüber gemacht, wie schwer es sein würde, Freunde zu finden. Diese Sorgen wurden bereits am Ankunftstag zerstreut. Auf einer Willkommensfeier, die meine Gastfamilie organisiert hatte, lernte ich nicht nur die erweiterte Familie kennen, sondern er waren auch zahlreiche Klassenkameraden der Gastschwestern eingeladen. Ich wurde sehr herzlich von allen in Empfang genommen. So habe ich direkt alle meine jetzigen Freunde kennengelernt. Hierdurch wurde ich auch sofort in der Schule integriert und hatte direkt einen Sitzplatz neben meinen Freunden. Schon am ersten Schultag haben mich auch die anderen Mitschüler angesprochen, teilweise sogar aus anderen Stufen. Irgendwie wussten alle bereits, wo ich herkomme, und sie wollten einfach nur „Hallo“ sagen und mich willkommen heißen.
Da ich quasi ohne Spanischkenntnisse nach Argentinien gereist bin, war ich sehr dankbar, dass ich anfangs auf Englisch mit meinen Mitschülern kommunizieren konnte. Allerdings wollte ich schon sehr bald zur spanischen Sprache wechseln, da ich etwas mitbekommen wollte, wenn sich andere unterhalten haben.
Inzwischen hat sich der Freundeskreis noch erweitert. Durch Feiern mit der Familie und den Gastschwestern habe ich zahlreiche Leute auch von anderen Schulen kennengelernt und wir treffen uns immer mal wieder bei Geburtstagsfeiern oder bei Meriendas.
Besondere Erlebnisse
Meine jüngere Gastschwester ist genauso wie ich ein großer Taylor Swift Fan. Sie überraschte mich bereits im Juli mit der Anfrage, ob ich mit ihr zusammen zum Taylor Swift Konzert in Buenos Aires gehen möchte. Meine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. So sind wir zusammen mit der älteren Gastschwester im November nach Buenos Aires geflogen und hatten ein unvergessliches Konzerterlebnis. Mit Karten direkt an der Bühne wurde es zu einem wahrgewordenen Traum.
Einige Zeit später bin ich nochmals mit der Gastfamilie nach Buenos Aires gereist, dieses Mal allerdings mit dem Auto. Die Fahrtstrecke beträgt rund 2.500 km. Wir waren zwei Tage im Auto unterwegs und übernachteten zwischendurch auf halber Strecke. Diese Reise war sehr anstrengend, aber gleichzeitig auch sehr beeindruckend, da ich wunderschöne Landschaften und verschiedene argentinische Kleinstädte zu sehen bekommen habe. Anlass der Reise war ein Geschenk für die ältere Gastschwester. So waren wir in Buenos Aires beim Roger Walters Konzert, welches ebenfalls spektakulär war.
Aktuell lerne ich die zweitgrößte argentinische Stadt kennen. Zusammen mit meiner Gastfamilie verbringe ich die Sommerferien in Cordoba und bin gerade dabei, die vielen schönen Seiten der Stadt zu entdecken.
Was ich bisher gelernt habe
Eine der wichtigsten Dinge, die ich in den letzten Monaten in Argentinien gelernt habe, ist mit der Spontanität der Argentinier umzugehen.
Hier wird das meiste erst einen Tag vorher oder noch am selben Tag geplant.
Wenn ich anfangs noch versucht habe, Dinge eine Woche vorher abzusprechen, musste ich bald die Erfahrung machen, dass die Absprachen vergessen wurden und somit ins Leere liefen. Da ich bisher immer sehr strukturiert meine Zeit geplant habe und gerne Termine frühzeitig organisiere, war dies anfangs eine Herausforderung für mich. Allerdings gewöhne ich mir inzwischen die Spontanität immer weiter an und habe sie schätzen gelernt. Ich werde dieses Verhalten sicherlich auch mit nach Deutschland nehmen und in meiner Freizeit deutlich mehr Spielraum für spontane Entscheidungen lassen.
Abschließend zu meiner größten Herausforderung: Dadurch, dass ich mit quasi keinen Spanischvorkenntnissen nach Argentinien gekommen bin, habe ich am Anfang eigentlich nur „Hola“ und „Gracias“ verstanden. Meine Freunde können alle Englisch sprechen, weswegen wir in der Anfangszeit eher auf Englisch kommuniziert haben, bis ich merkte, dass hierdurch meine Spanischfortschritte verlangsamt wurden. In der Schule habe ich dann im Englischunterricht die Aufgabe bekommen, Gedichte und Bücher auf Spanisch zu lesen und anschließend zusammenzufassen. Dies hat mit zwar in Bezug auf das Vokabular geholfen, allerdings hatte ich noch immer Probleme mit dem Verfassen von Sätzen und mit dem Führen von Gesprächen. Viele meiner Lehrer haben zunächst nicht verstanden, dass ich kaum Spanisch verstehe. So sollte ich bereits nach einem Monat die Tests in der Schule mitschreiben. Mit viel Vorbereitungsaufwand ist es mir dann Stück für Stück gelungen, die Tests immer besser zu bestehen.
Mittlerweile kann ich mich auf Spanisch verständigen. Wenn ich mich unterhalte, kann ich in der Regel das sagen, was ich möchte, und ich verstehe meistens mein Gegenüber. Für den Spracherwerb hat mir auch das viele Schreiben von spanischsprachigen Nachrichten auf WhatsApp mit meinen Freunden hier geholfen. Um ein Gefühl für die Sprache zu entwickeln, schaue ich auch gerne mit meiner Familie und meinen Freunden Filme mit spanischen Untertiteln. Natürlich unterlaufen mir beim Sprechen immer noch zahlreiche Fehler, allerdings bin ich sehr stolz auf meinen Fortschritt. Mit meinen Freunden spreche ich inzwischen fast ausschließlich auf Spanisch. Bei neu kennengelernten Leuten spreche ich nur noch Spanisch. Dies alles hat mir sehr dabei geholfen, mein Spanisch immer weiter zu verbessern.
Zusammenfassend kann ich nur sagen, dass ich mich in Argentinien sehr wohl fühle. Ich habe wunderbare, warmherzige und aufgeschlossene Menschen kennengelernt.
Ich merke bereits, dass die argentinische Kultur ein Stück weit Spuren in mir hinterlassen hat.
Ich danke Ihnen noch einmal ganz herzlich für die Möglichkeit, die sie mir auch über das Stipendium eröffnet haben. Schon die letzten Monate haben mein Leben ein Stück weit verändert.