Judith, Bolivien, 2016, Schuljahr im Ausland mit AFS-Lateinamerika-Stipendium:
 

Ich kam Anfang August in der Stadt Tarija in Bolivien an und verbrachte dort wunderbare elf Monate mit meiner herzlichen Gastfamilie, bei der ich ohne Probleme und ohne die Familie wechseln zu müssen, leben konnte. Am 28. Juni hieß es dann Abschied nehmen und nach einem letzten AFS-Treffen in La Paz, ging es zurück nach Deutschland.

Rückblickend auf diese ereignisreichen elf Monate, kann ich ohne Zweifel sagen, dass das Auslandsjahr in Bolivien, das beste Jahr in meinem bisherigen Leben war. Das Glück hat mich das ganze Jahr über verfolgt, ich hatte in einer lieben Familie Platz gefunden, konnte mich in einer hübschen kleinen Stadt einleben, fand wunderbare neue Freunde und sah letztendlich auch viel von Bolivien. Und durch diese unterstützende Basis hatte ich die Möglichkeiten, die bolivianische Kultur, Tradition, Angewohnheit, ihre Menschen und auch mich selbst besser kennenzulernen.

Ich bekam einen anderen Bezug zu dem Wort und dem Gefühl „Familie“

Die Gastfamilie ist wohl eine der wichtigsten Komponenten eines solchen Auslandsjahres. Sie führte mich in das bolivianische Leben ein, in die Traditionen und Regeln. Sie gestattete mir den Einblick in das typisch bolivianische Familienverhältnis, wie ich es auch in den Familien bolivianischer Freunde wiederfinden konnte.

Meine Gastfamilie bestand aus meinen Gasteltern, meinen beiden älteren Gastbrüdern und meiner gleichaltrigen Gastschwester. Obwohl meine Gastmutter die hartschuftende war, die das Haupteinkommen der Familie verdiente und der das Haus gehörte, war doch mein Gastvater der Herr im Haus und verteidigte immer gut seine Rolle. Ein Unterschied zu meinen familiären Gewohnheiten in Deutschland, an den ich mich erst einmal gewöhnen musste. Es gab ungeschriebene Regeln, wie zum Beispiel, dass mein Gastvater immer am Tischende saß, dass er als erstes aufgetischt bekam und immer das beste Stück Fleisch auf seinem Teller lag. Meine Gastmutter hatte es schwer ihm zu widersprechen, denn er selbst war von seiner Meinung überzeugt und sah ungerne seine Fehler ein.

Ich war das Gegenteil von meiner deutschen Familie gewöhnt, wo meine Mutter die Entscheidungen traf und wo es keine solchen ungeschriebener Regeln gab. In Deutschland sind Mann und Frau auf den ersten Blick gleichgestellt, in Bolivien herrscht immer noch eine patriarchale Struktur. Es fiel mir nicht immer leicht, das zu akzeptieren und wenn mein Gastvater guter Laune war, sprach ich ihn auch auf so manches Thema an, doch zur Einsicht schien er nie zu kommen.

Trotzdem war das Familienverhältnis ein sehr warmes und ich lernte wie wichtig der Zusammenhalt und die Unterstützung untereinander war. Familie wird in Bolivien großgeschrieben und ist eines der wichtigsten Dinge im Leben eines Bolivianers. Durch die viele Zeit, welche wir auch mit unseren Tanten und Onkeln, Großvätern und Cousins verbrachten, und durch das gute Verhältnis, das wir untereinander hatten, bekam ich einen ganz anderen Bezug zu dem Wort und auch dem Gefühl „Familie“.

In Bolivien ist das soziale Leben ungemein wichtig

In Deutschland sind die Werte ganz anders aufgestellt. Die Arbeit ist so wichtig, dass die Familie dazwischen irgendwie verloren geht und wir leben um zu arbeiten. Nach der Schule geht es raus aus dem Elternhaus, rein in die Unabhängigkeit. In Bolivien leben die Kinder teilweise noch mit dreißig Jahren bei ihrer Familie. Die Unabhängigkeit geht dadurch verloren, doch das Band mit der Familie bleibt bestehen. Ich kann keinen der beiden Wege als richtig oder falsch einstufen, ein Zwischenweg wäre angemessen.

In Bolivien ist das soziale Leben ungemein wichtig. Wie gesagt, ist die Familie wohl der wichtigste Teil, doch auch die Freunde, die Klassenkameraden oder Arbeitskollegen sind Familie. Man kann sich das wie ein Muster aus Kreisen vorstellen, der engste Kreis ist die eigene Familie, dann kommen die Freunde und dann die Klassenkameraden oder Arbeitskollegen.Mit den Freunden wird sich jeden Tag getroffen. Wir lernten zusammen oder trafen uns im Zentrum auf der Plazuela, welches als Treffpunkt für Jugendlichen in meiner Stadt Tarija galt. In Deutschland ging die Freizeit mit  Freunden oft verloren, da man Termine hatte oder lernen musste. In Bolivien sah ich, wie schön es war, viel Zeit mit seinen Freunden zu verbringen und einfach alles miteinander zu teilen.

Meine bolivianischen Freundinnen und Freunde

Mir fiel es unheimlich leicht Freunde zu finden, leichter als ich zuvor gedacht hatte. Durch meine Gastschwester wurde ich in ihren Freundeskreis aufgenommen, doch schon nach kurzer Zeit fand ich meine eigenen Freunde und verbrachte jede Pause und jeden freien Nachmittag mit Ihnen. Der Zusammenhalt zwischen uns war anders als der zwischen meinen Freunden und mir in Deutschland. Meine bolivianischen Freunde neckten sich viel, stritten sich auch mal, doch schon nach kurzer Zeit verstanden sie sich wieder. Wir begannen viele kleine Traditionen miteinander zu teilen und Feste, wie den San Valentin oder Karneval, miteinander zu verbringen.

Es war für mich unglaublich interessant zu sehen, wo die Werte meiner Freunde und Klassenkameraden lagen. Ich musste erkennen, dass der Materialismus eine große Rolle unter den tarijeñischen Jugendlichen spielte. Ein gutes Handy und schöne Klamotten waren wichtig und Leute, die aus der Reihe tanzten, passten nicht ins Schema. Als ich zurück nach Deutschland kam, fühlte ich mich plötzlich viel freier, da ich anziehen konnte, was ich wollte, und zu sagen, was ich dachte.

Nichtsdestotrotz habe ich jedoch viel von meiner Gastfamilie und meinen Freunden gelernt. Ich habe gelernt, dass der Zusammenhalt und die Liebe untereinander, die Zeit, die man miteinander verbringt, ungemein wichtig sind. Familie und Freunde machen das Leben umso schöner. Diese Erkenntnis, möchte ich mit nach Deutschland nehmen und weiter beibehalten. Ich möchte mehr Zeit mit meiner Familie und mit meinen Freunden verbringen, sie unterstützen, für sie da sein.

Unterschiede zwischen Bolivien und Deutschland

In meinem Auslandsjahr ist mir immer wieder aufgefallen, wie gut und geschützt das Leben in Deutschland doch ist. Ich habe immer mehr die Infrastruktur und Unterstützung vom Staat zu schätzen gelernt, denn das ist es, was in Bolivien noch immer fehlt. Die Infrastruktur bröckelt und auf Unterstützung vom Staat kann man nicht hoffen. Wenn man dort an Krebs erkrankt, was leider bei immer mehr Menschen zur Realität wird, und man eine besondere Behandlung bräuchte, man diese selbst jedoch nicht bezahlen könnte, dann kann man nur noch auf die Hilfe anderer hoffen oder aufgeben.

Außerdem fing ich an die Toleranz in Deutschland gegenüber allem Fremden und Unbekannten zu schätzen. Natürlich gibt es da solche und andere Leute, doch in Bolivien fällt es vielen schwer, ungewöhnliche Fälle zu akzeptieren, wie z.B. Leute, die sich anders kleiden, Homosexuelle oder Andersdenkende.

Als ich dann jedoch zurück nach Deutschland kam, überraschte mich die Fremde, die mich plötzlich umgab. Zwischen all den Regeln und den geregelten Abläufen, zwischen den fein geteerten Straßen und den perfekt konstruierten Häusern, fühlte ich mich wie eingesperrt in der Stadt. Auch die Menschen, wie sie auf ihre Handys starrend in den Straßenbahnen saßen oder kopflos von einem Ort zum nächsten rasten. Sie kamen mir vor wie leere Hüllen. Ich fühlte mich plötzlich fremd in meinem Heimatland und sehnte mich mehr und mehr zurück nach Bolivien.

Es fiel mir schwerer mich wieder in Deutschland einzugewöhnen, als damals in Bolivien. Doch nach und nach begann ich wieder die Vorteile zu sehen, wie etwa beim Zebrastreifen auch wirklich als erster über die Straße gelassen zu werden, oder, dass man im Supermarkt auf gesunde und ökologische Lebensmittel achten kann.

Ich bin ein glücklicherer Mensch

Ich fühle jedoch, dass ich noch immer mit Bolivien verbunden bin und es auch immer sein werde und mit jedem Tag vermisse ich meine Gastfamilie, meine Freunde, die Stadt Tarija und die bolivianische Kultur mehr und mehr.

Es war das beste Jahr meines Lebens und ich bin ein glücklicherer Mensch, denn ich kann mich selbst besser akzeptieren und auch das Leben, das mich umgibt. Ich habe tatsächlich an Selbstvertrauen gewonnen und das hatte ich mir auch von meinem Jahr in Bolivien erhofft.

Danke an alle, die mit das möglich gemacht haben. Ich bin unglaublich dankbar.

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