Sophia, Indien, weltwärts, 2022
Sophia unterrichtete an einer Grundschule in Indien. Sie verbrachte mit dem weltwärts-Programm ihren Freiwilligendienst dort. Im folgenden berichtet sie über ihre Erlebnisse und Erfahrungen.
Land und Leute
Namasté! Ich bin Sophia, 23 Jahre alt und habe 10 Monate in einer kleinen Stadt an der Westküste Indiens gelebt.
Am Anfang durchlebte ich einen intensiven Kulturschock, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Meine Vorfreude auf Indien war so groß, dass ich gar nicht darüber nachdachte, wie schwierig die kulturellen Unterschiede eventuell sein könnten.
Einer der größten Unterschiede zwischen der indischen und westlichen Kultur ist die persönliche Freiheit, sich frei entfalten zu können. In Indien ist in jedem Lebensbereich die Familie involviert. Ob Beruf oder Partner – es wird nie eine Entscheidung allein getroffen. Die Familie steht über allem und ist das Allerwichtigste. Die Beziehung zwischen Familienmitgliedern ist sogar so eng, dass es in Indien völlig normal ist, wenn die gesamte Familie zusammen in einem Bett schläft. Ich war zu Beginn geschockt, dass meine gleichaltrige Gastschwester sich mit meiner Gastmutter das Bett teilt. Ich habe in Deutschland meine eigene Wohnung und meine Privatsphäre ist mir unglaublich heilig.
Ich habe für viele Aspekte der indischen Kultur unterschiedlich viel Zeit zur Eingewöhnung gebraucht. An die Schärfe im Essen, das Duschen mit einem kalten Eimer Wasser und das Waschen meiner Wäsche auf einem Stein im Garten, gewöhnte ich mich schon innerhalb kürzester Zeit. Die ursprünglichere Lebensweise in Indien gab mir schnell ein Bewusstsein dafür, wie erschreckend schnelllebig und bequem unsere Gesellschaft in der westlichen Welt ist und ich fand Gefallen daran, mir für alltägliche Dinge wie z.B. für das Kochen mehr Zeit zu nehmen und diese Tätigkeiten mit mehr Bewusstheit auszuführen.
Was mich besonders zu Beginn oft begleitete, war ein intensives Gefühl der Dankbarkeit. Es war beinahe unglaublich, mit wie wenig die Menschen dort lebten und auskamen. Wir vergessen leider viel zu oft, wie privilegiert wir sind und dass es Orte auf der Welt gibt, an denen die Menschen nicht einmal einen Bruchteil von dem besitzen, was für uns als normal gilt. Ich habe plötzlich begonnen, jede vorher noch so banale Kleinigkeit in meinem Leben sehr wertzuschätzen.
Nach etwa 5 Monaten hatte ich das Gefühl, so richtig in Indien angekommen zu sein und mich zu Hause zu fühlen. Der laute Verkehr und die Menschenmassen waren irgendwann völlig normal und ein selbstverständlicher Teil meines Alltags. Als neue Freiwillige in meine Nähe kamen, blühte ich immer mehr auf, empfand noch mehr Lust am Reisen und merkte, dass ich mich noch besser auf die indische Kultur einlassen konnte.
Viele meiner Unsicherheiten verschwanden, als ich Kontakt mit Gleichaltrigen aus Deutschland hatte und dennoch bin im Nachhinein froh, die ersten Monate in Indien ganz allein verbracht zu haben, da ich merke, wie sehr ich an mir gewachsen bin. Denn dadurch, dass ich all meine Probleme und Konflikte am Anfang allein durchstehen musste und ein paar Mal allein gereist bin, bin ich ein viel selbstbewussterer und zuversichtlicherer Mensch geworden. Es fällt mir leichter, meine Bedürfnisse wahrzunehmen und persönliche Grenzen zu kommunizieren. Ich habe im Allgemeinen mehr zu mir selbst gefunden und lege nun viel mehr Wert auf Achtsamkeit und Selbstliebe.
Arbeitsplatz
Mein Projekt war in einer dörflichen Grundschule, etwa 25 Minuten mit dem Bus entfernt von meiner Gastfamilie.
Die Schule bestand aus rund 100 Kindern, einem Schulleiter, 8 Lehrerinnen und Lehrern sowie 4 Köchinnen, die täglich das Mittagessen für die gesamte Schule zubereiteten. Meine Arbeitszeit betrug 6 Stunden bei je 5 Tagen pro Woche. Die Wochenenden waren frei und bestanden meist aus kleinen Reisen oder Treffen mit anderen Freiwilligen in meiner Umgebung. Vor Unterrichtsbeginn um 10 Uhr fand jeden Morgen der Prayer statt, wo die Kinder, in Reihen aufgestellt, die Nationalhymne sangen und die wichtigsten Nachrichten des Tages auf Englisch verkündeten, woraufhin jeder in seine Klasse ging und ein Glas warme Milch trank.
Mein Klassenraum war sehr groß und bestand aus der 1., 2. und 3. Klasse – auch „Nali Kali“ genannt, da sie die jüngsten sind. Ich teilte mir die Klassen mit 2 anderen jungen Lehrerinnen, zu denen ich im Laufe meines Aufenthaltes ein sehr gutes Verhältnis entwickelte. Wir waren immer zu dritt im Klassenraum und wechselten uns alle 90 Minuten mit den Kindern ab. Meistens unterrichtete ich Englisch, zwischendurch aber auch mal Mathe und „Environmental Studies“, wo es darum ging, die Kinder für einen bewussteren Umgang mit den Ressourcen unserer Erde zu sensibilisieren.
Die meiste Zeit bearbeitete ich mit den Kindern ihre Schulbücher, um sie auf ihre Exams vorzubereiten. Zwischendurch baute ich aber immer wieder kreative Einheiten in den Unterricht ein, was den Kindern sowie auch mir viel Spaß machte. Ich übte verschiedene Reime und Lieder mit ihnen, manchmal studierten wir auch kleine Tänze ein oder bastelten, wie zum Beispiel an Weihnachten.
Das Weihnachtsbasteln war besonders schön und wird mir ewig in Erinnerung bleiben, da alle Kinder meiner Schule Hindus oder Muslime sind und somit noch nie mit Weihnachten in Berührung kamen. An diesem Tag habe ich den interkulturellen Austausch besonders stark erlebt.
Meine erste Zeit im Projekt war jedoch sehr schwierig. Ich fühlte mich seitens der Lehrerinnen und Lehrern sehr unwillkommen und hatte das Gefühl, diese wussten gar nichts mit mir anzufangen. Nach einigen Wochen erzählte ich der Organisation vor Ort davon, die sich sehr schnell kümmerten und mit Schulleiter über meine Anliegen sprachen. Seit diesem Gespräch wurde mir mehr Nettigkeit entgegengebracht.
Trotz allem blieb das Projekt aber bis zum Ende eine Herausforderung für mich. Die Kinder wuchsen mir jedoch mit den Monaten immer mehr ans Herz, so dass ich sie am Ende kaum gehen lassen wollte. Besonders die Kleinsten haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen, da ich meine gesamte Zeit im Projekt mit ihnen verbracht habe und sie sehr intensiv kennenlernen durfte. Ich bin der Überzeugung, dass sie mich mindestens genauso viel gelehrt haben wie ich sie.
Obwohl ich an dem indischen Schulsystem vieles beobachtet habe, was nicht richtig ist; sei es, dass die Kinder zu wenig Freizeit haben und der Leistungsdruck zu hoch ist, sind es am Ende vielmehr die positiven Seiten meiner Erfahrung, die mich nachhaltig geprägt haben. Beispielsweise, dass ich als Freiwillige die Zeit hatte, die einzelnen Talente und Fähigkeiten der Kinder wahrzunehmen und diese zu fördern, und dass ich Ihnen meine Werte vermitteln und wundervolle Entwicklungen bei ihnen festzustellen durfte, sowohl beim Lernen als auch im sozialen Umgang miteinander.
Gastfamilie
Meine Gastfamilie hätte besser nicht sein können und gehörte zu den schönsten Erfahrungen meines Freiwilligendienstes. Ich fühlte mich von Anfang an wohl bei ihnen und auch die Beziehung wurde mit jedem Monat enger. Meine Familie bestand aus meiner Gastmutter, meiner gleichaltrigen Gastschwester, der Schwiegertochter und ihrem kleinen Sohn, der bei meiner Ankunft in Indien gerade erst wenige Woche alt war. Sie haben mich sofort als einen Teil ihrer Familie behandelt, nahmen mich mit zu Festen und feierten Weihnachten mit mir.
Da ich in einer christlichen Familie lebte und meine Gastmutter schon seit 18 Jahren Freiwillige bei sich aufnimmt, war meine Gastfamilie der einzige Bereich, in dem ich keinen Kulturschock erlebte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gastfamilien, gab es bei mir keine besonderen Regeln und Bräuche, an die ich mich hätte gewöhnen müssen. Außerdem sprechen alle Familienmitglieder sehr gutes Englisch, weshalb es nie Kommunikationsschwierigkeiten gab. Ich konnte bei Problemen immer mit meiner Gastmutter sprechen und auch bestimmte Tabuthemen, beispielsweise die Menstruation, fanden einen sehr lockeren Umgang innerhalb der Familie, was in Indien eher eine Seltenheit ist. Der Abschied von ihnen fiel mir nicht leicht und auf beiden Seiten flossen einige Tränen, dennoch bin ich mir sicher, dass der Kontakt niemals richtig abbrechen wird und ich meine Gastfamilie in naher Zukunft noch einmal in Indien besuchen werde.
Betreuung
Mit meiner Partnerorganisation FSL India war ich sehr zufrieden. Die Mitarbeiter dort sind sehr herzliche, hilfsbereite und humorvolle Menschen, die Ihre Arbeit wichtig nehmen. Sie sind mir sehr ans Herz gewachsen und gehörten am Ende sogar zu einer meiner schwersten Abschiede. Ich hatte während meines Freiwilligendienstes besonders viel Kontakt zu ihnen, da ich in derselben Stadt gewohnt habe und mein Schulprojekt nur wenige Gehminuten vom Office entfernt lag. Außerdem wurden wir einmal im Monat von unserem Koordinator im Projekt und in der Gastfamilie besucht, um nachzufragen, wie es uns geht. Von Anfang an war das FSL-Center ein wichtiger Ort und sicherer Hafen für mich. Wir haben dort unsere ersten Tage in Indien verbracht und wurden gut auf das Land, die Menschen und die Kultur vorbereitet. Ich habe mich jedes Mal auf die Seminare gefreut, die alle 3 Monate stattfanden, da mir der Austausch mit meiner Mitfreiwilligen und den Mitarbeitern von FSL sehr gutgetan hat. Auch als es Konflikte in meinem Projekt gab, hat sich mein Koordinator schnell um Lösungen bemüht und sich mit meinem Projekt in Verbindung gesetzt.
Sprache und Kommunikation
Während meines Auslandsjahres habe ich mich durchweg auf Englisch verständigt, was im Großen und Ganzen sehr gut geklappt hat. Ich fand es spannend, dass, obwohl viele Menschen in Indien sehr gebrochenes Englisch sprechen und auch die Kinder im Projekt teilweise nur wenige Wörter und Sätze beherrschten, die Kommunikation am Ende doch immer funktionierte, wenn man es wirklich wollte. Oftmals reichte sogar nur das Gestikulieren mit Händen und Füßen aus, um sich ausreichend zu verständigen.
Meine Partnerorganisation hat uns Freiwilligen zwar einen sechsmonatigen Sprachkurs in Kannada an, jedoch war ich in den ersten Monaten meines Freiwilligendienstes so sehr mit mir selbst, meinem Kulturschock und den Problemen im Projekt konfrontiert, dass mir ein zusätzlicher Sprachkurs zu anstrengend gewesen und mich über meine Kapazitäten hinaus gefordert hätte. Allerdings sind im Laufe meiner Zeit in Indien durch den engen Kontakt zu den Einheimischen trotzdem die wichtigsten Sätze und Floskeln, wie zum Beispiel „Oota aita?“ – „Hast du schon gegessen?“, hängengeblieben, die ich in alltäglichen Situationen benutzt habe. Es war immer schön zu sehen, wie sehr sich die Menschen gefreut haben, wenn man die lokale Sprache im Austausch mit ihnen angewandt hat. Im Nachhinein bereue ich es daher fast ein wenig, die Sprache nicht doch etwas intensiver gelernt zu haben und würde jeder/m Freiwilligen empfehlen, sich um ein paar Sprachkenntnisse zu bemühen, da es das Einleben in die Kultur deutlich erleichtert und verstärkt.
Globales Lernen und Entwicklungspolitik
Globales Lernen bedeutet für mich, den kleinen Horizont seines eigenen Landes zu verlassen und von anderen Ländern, Menschen und Kulturen zu lernen. Ich habe gelernt, dass wir im Kern alle eins sind und uns gar nicht so sehr voneinander unterscheiden, wie es auf den ersten Blick wirken mag. Durch das Leben im Ausland können Vorurteile beseitigt und Rassismus verringert werden sowie Inspirationen, Gedankenanstöße und Werte weitergegeben und ausgetauscht werden. Über Entwicklungszusammenarbeit habe ich gelernt, dass es immer etwas von anderen Menschen zu lernen gibt und dass man das Größte bewirken kann, wenn sich viele kleine Menschen zusammentun und gegenseitig mit ihren eigenen persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten unterstützen.
Meine Erfahrungen plane ich weiterzugeben, indem ich immer wieder von ihnen erzähle und alles, was ich in Indien gelernt habe, zu verinnerlichen und fest in mein Leben zu integrieren