Ina, Frankreich, Internatsprogramm, 2019:
Als ich mich an einem Freitag Anfang September mit einem riesigen Koffer und meinem Baritonsaxophon durch den Gang im Zug presste, wusste ich nicht im Entferntesten, was ich in den folgenden Monaten erleben würde. Ich war sehr unsicher. Frankreich war nie meine Erstwahl gewesen und stand vor allem nie auf meinem Präferenzbogen. Zudem würde ich ins Internat gehen, hatte dem auch zugestimmt; und machte mir dennoch Sorgen, ob es für ein Einzelkind, das seine Privatsphäre sehr schätzt, eine gute Idee ist, ins Internat zu gehen. Abgesehen davon besorgte mich, was alle Austauschschüler vor Abreise besorgt: Wie wird das mit der Gastfamilie? Der Schule? Den Freunden? Der Sprache? Wie wird das mit mir? Wer bin ich, wer werde ich sein, was werde ich erleben und erleiden?
Meine Gastfamilie war nett und unterstützte mich. Ich hatte zwei Gastbrüder, einer davon ein anderer Austauschschüler aus der Dominikanischen Republik, der andere 12 Jahre alt und Japan-begeistert, sowie eine Gastschwester auf ihrem eigenen Austauschjahr in Argentinien. Ich habe mich bei ihnen wohlgefühlt, und ich hätte wohl kaum verständnisvollere Gasteltern haben können; plus einen kleinen Gastbruder, der mit mir auf den Jahrmarkt ging, als es mir schlecht ging, und einen 16-jährigen dominikanischen Gastbruder, der mir besonders am Anfang beim Übersetzen ins Französische half, wenn es auf Englisch nicht mehr ging.
Meine erste Woche im Internat dachte ich, hier überlebe ich kein Jahr. Montags wollte ich nicht zurück ins Internat. Das Zimmer war klein, eng, und der Tagesablauf war streng. Das einzig Gute: Meine Zimmergenossin Emma, die selbst mit AFS im vorherigen Jahr in Italien war und ihren Sommer in den USA verbracht hatte. Sie war eine der einzigen Menschen an meiner Schule, mit denen ich eine Unterhaltung auf Englisch führen konnte. Zudem war sie einfach unglaublich geduldig, hilfsbereit und liebevoll.
In der zweiten Woche wechselte ich in die Literaturklasse. Ich lernte zwei Mädchen kennen, mit denen ich mich auf Anhieb verstand, und von da an aß ich mit ihnen, saß neben ihnen, mir wurden Inhalte im Unterricht erklärt, bis ich es verstand, Hausaufgaben und Daten für Klassenarbeiten mitgeteilt, konnte ihre Notizen abschreiben, wenn ich nichts verstand, und meine Vokabel- und Grammatikfehler wurden sehr konsequent korrigiert.
Eine von beiden war auch im Internat, und bald aßen wir gemeinsam mit zwei weiteren Freunden von Emma immer zusammen – Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. „Ah, da trinkt sie wieder ihre heiße Schokolade“ habe ich unzählige Morgen gehört, als ich mit einer riesigen Tasse vom Heißgetränkautomaten an den Tisch kam, und abends spielten wir so lange Karten, bis die Betreuer schiere Überzeugungsarbeit leisten mussten, damit wir die Kantine verlassen. Nach der Hausaufgabenstunde, in der ich akribisch Vokabeln lernte, gaben wir uns gegenseitig Massagen, dekorierten das Zimmer mit Fotos und Lichterketten, und sprachen über unsere Freuden und Sorgen. Meine Freunde wurden meine Familie, und bald wollte ich freitags nicht mehr zurück nach Hause. Am liebsten wäre ich für immer in unserem Zimmer unter meiner gelben Kuscheldecke geblieben bis Emmas Wecker heller und heller aufleuchtet und Vogelgeräusche von sich gibt, bis sich einer von uns traute, aufzustehen.
Ich merkte, wie ich in der Schule immer mehr verstand. Die neun Stunden Philosophie, die ich hatte, wurden nämlich frontal unterrichtet, und jeder musste eigenständig Notizen schreiben. Woche für Woche musste ich weniger auf das Blatt meines Nachbarn schauen, um meine Lehrerin zu verstehen. Die Lernkurve war steil. Meine Noten verbesserten sich, am Mittagstisch verstand ich langsam immer öfter, worüber gesprochen wurde, und ich hatte es immer leichter, mich eigenständig zu integrieren.
Zeitgleich trafen wir uns am Wochenende oft mit anderen Austauschschülern, von welchen ich viele sehr in mein Herz geschlossen habe. Von wie vielen Leuten ich nun mittlerweile eingeladen wurde, sie mal in ihrem Land zu besuchen, kann ich gar nicht mehr aufzählen. Unter ihnen fühlte ich mich immer wie die beste Version meiner selbst; hier wurden meine Sorgen und Probleme verstanden, über Fettnäpfchen gelacht, in die man getreten war, und vor allem sehr viel über Gott und die Welt geredet. Wie sehr ich diesen Teil meiner Erfahrung schätze, kann ich wohl kaum in Worte fassen. Die Einblicke, die ich erhalten habe, und die Persönlichkeiten, die ich kennenlernen durfte, werde ich nie vergessen – sie sind ein Teil von mir.
Klar gab es schlechte Zeiten. Im Winter ging es mir nicht gut: Mein Leben pendelte sich langsam ein, ich hatte eine Routine, und gewöhnte mich langsam daran, dass mein Zuhause nun Südfrankreich war. Ich entwickelte eine „Und jetzt?“-Haltung. Was würde jetzt passieren? Ich war mir unklar darüber, was passieren würde, sobald die Lernkurve abflacht. Außerdem konnte ich mich zwar verständlich machen, aber keine komplexeren Sachverhalte erklären, was mich sprachlich sowie sozial isoliert fühlen ließ. Auch da war meine Gastfamilie für mich da, und bald rappelte ich mich wieder auf, und sprach neue Leute an, setzte mich zu anderen an den Tisch, ging am Mittwochnachmittag raus, statt mich immer an meine drei Freundinnen zu hängen. Bald kam auch eine mittlerweile gute Freundin aus Istanbul auf meine Schule, und ich konnte ihr bei Dingen helfen, ihr die Stadt zeigen, und einen Kaffee trinken gehen. Da merkte ich erst, wie daheim ich eigentlich war.
Rückkehr nach Corona
Nach unserer frühen Heimreise im März aufgrund der Pandemie kam ich sowohl im Sommer als auch Anfang Herbst zurück. Ich verbrachte zwei wunderbare Wochen zurück ‚daheim‘, in denen ich alle meine Freunde wiedersah, Städte besuchte, und viel Sonne tankte. Südfrankreich war noch viel schöner im Sommer und ich genoss das Glück, das ich hatte, mich einfach in einen Zug nach Frankreich setzen zu können. Viele hatten diese Möglichkeit nämlich nicht. Im September hatte ich meine verschobenen französischen Abschlussprüfungen, und ich bestand mit Bravour, vor allem meine Französischprüfung. Zum Glück hatte ich dabei meine engste Freundin Nell an der Seite, die mit mir diese Prüfungen machte, und bei der ich einen Monat verbrachte. Meine anderen zwei Freundinnen habe ich auch besucht in den Städten, in denen sie mittlerweile fürs Studium leben.
Meine Freunde fehlen mir enorm. Sowohl meine französischen als auch die anderen von AFS. Manchmal fehlt mir sogar meine 70-jährige Komiteeleiterin, die sich unser mit viel Strenge aber großem Wohlwollen annahm und unterstützte, wo es ging. Ohne sie hätte ich heute wahrscheinlich nicht mein Baccalauréat und würde noch die Schulbank in Deutschland drücken.
Rückblick
Mein Austauschjahr war eine sehr lange Prüfung für mich, wo es oftmals schlicht darum ging, mich selbst zu überwinden, um Dinge zu tun, die mir Zuhause in Deutschland so leichtfielen. Ich habe wunderbare Erinnerungen gesammelt, Freunde fürs Leben gefunden – sowohl in Frankreich als auch im Rest der Welt – und ein zweites Zuhause. Fast ein Jahr später blicke ich auf diese abenteuerliche Zeit zurück, auf die Person, die dorthin ging, und die, die wiederkam, und bin überzeugt, alles richtig gemacht zu haben.
Diese Erfahrung kann mir keiner nehmen. Manchmal liege ich immer noch in meinem Zimmer und denke: Jetzt hätte ich gerne Emma an meiner Seite, im Schein unserer Lichterketten und mit den Bildern an den Wänden, die wir im Secondhandladen in einem alten Fotografiebuch fanden, ausschnitten und aufhingen. Manchmal frage ich mich auch, ob mich die Kellnerin im l’Or Noir wiedererkennen würde. Ob sie wohl noch wüsste, dass ich ein Nutella Crêpe mit einer heißen Schokolade bestellen würde?
Jedenfalls habe ich nun immer ein Kartendeck dabei, vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit, jemandem Président beizubringen und eine Partie zu spielen – wie damals, in meiner kleinen Internatsfamilie. Auf jeden Fall hoffe ich, bald mein erstes Buch fertigstellen zu können – auf Französisch – denn ich habe es meiner Freundin aus Istanbul gewidmet, die sich schon sehr freut.