Paul, Schweiz, 2015, Schuljahr im Ausland mit AFS-Stipendium:

Ich bin nun schon seit fünf Monaten in der Schweiz und kann noch nicht glauben, dass die Hälfte meines Auslandsjahres schon vorbei ist. An dieser Stelle möchte ich mich für das Teilstipendium des AFS-Stipendienfonds bedanken, ohne welches mein Auslandsjahr sicher nicht möglich gewesen wäre.

Für die Schweiz habe ich mich entschieden, weil ich für mein erstes Auslandsjahr nicht ganz so weit weg von Deutschland und mein Französisch verbessern wollte. Ausserdem hat mich die Schweiz aufgrund der Dinge, für die sie im Ausland bekannt ist (Käse, Schokolade, Uhren, Landschaft), aber auch aufgrund ihrer grossen Vielfalt schon immer fasziniert.

Nach 5 Monaten kenne ich dieses Land nun schon etwas besser, und es gefällt mir hier grossartig, wenn es auch komplett anders ist, als erwartet. Spricht man jedoch von der Schweiz, hängt das davon ab, wo man sich denn befindet. Ich bin in der französisch- deutschsprachigen Stadt Fribourg (nicht im Breisgau!) gelandet, doch dazu später mehr.

Durch meine Gastfamilie habe ich viel über mein Gastland gelernt

Meine Gastfamilie besteht aus meinen Gasteltern, einem älteren Gastbruder und einer jüngeren Gastschwester. Sie wohnen gleich im Stadtzentrum von Fribourg, das mit 30.000 Einwohnern schon als eine grössere Stadt gilt, aber immer noch übersichtlich und beschaulich ist. Somit kann ich im Alltag praktischerweise alles zu Fuss erreichen. Das ermöglicht es mir, in der Freizeit ziemlich viel zu machen.

Man hat mich gleich zu Beginn freundlich aufgenommen und mit viel Fürsorge und Geduld in den neuen Alltag hineingeführt. Für mich gelten dieselben Regeln wie für meine Gastgeschwister. Das Familienleben wird als wichtig angesehen und ist vergleichbar mit dem in Deutschland: zur Hausarbeit tragen alle bei, man muss sich untereinander absprechen, und man verbringt viel Zeit miteinander, besonders an Wochenenden. Sich andauernd in sein Zimmer zurückzuziehen wird nicht gern gesehen.

Generell nimmt man viel Rücksicht auf andere. Am Anfang war es manchmal nicht einfach, weil ich mich an manche Regeln erst noch gewöhnen musste und Schweizer zu Beginn eher doch zurückhaltend sind. Ich verstehe mich aber gut mit ihnen, wir teilen einige Interessen, und sie unternehmen einiges mit mir. Durch sie habe ich viel über mein Gastland gelernt.

Mein Freizeitraum ist mir fair beigemessen. Ich kann mir meine Freizeit ziemlich selbständig gestalten, allerdings muss ich am Wochenende abends spätestens um Mitternacht zu Hause sein und sagen, wo ich bin. Selbständig sein bedeutet auch, selbst zu organisieren. Statt Elterntaxi heisst es daher öffentlicher Nahverkehr, und auch sonst ist man selber für seine Sachen zuständig.

Eine Freiburger Besonderheit ist die Zweisprachigkeit

Ich gehe hier auf das Collège, was der gymnasialen Oberstufe entspricht. Im Gegensatz zum deutschen Bildungssystem hat man kein flexibles Kurssystem, sondern die Organisation gleicht unserer Sekundarschule mit Klassenstruktur (meistens mehr als 25 Schüler) und grösstenteils Pflichtprogramm. Nur eine Minderheit entscheidet sich für die langwierige und anspruchsvolle Matura, die Anforderungen sind hoch, und Schweizer Jugendliche müssen viel lernen. Der Unterricht findet ganztägig statt, und man bleibt mittags in der Schule, wenn man nicht gerade direkt nebenan wohnt.

Die Schülerschaft ist sehr gemischt, alle Leistungsniveaus, sozialen Schichten und Nationalitäten sind vertreten. Eine Freiburger Besonderheit ist die Zweisprachigkeit, sodass es in jeder Schule deutsch- und französischsprachige Klassen gibt, wobei letztere eindeutig in der Mehrheit sind. Die beiden Sprachgruppen mischen sich nicht sonderlich, da sie einmal mentalitätsmässig sehr verschieden sind, zum anderen die Verständigung schwer fällt, obwohl man seit der Primarschule die Sprache des anderen lernt. Jedoch sprechen die Deutschsprachigen ein sehr ausgeprägtes Schweizerdeutsch, das die Französischsprachigen nicht verstehen können. Erstere wechseln jedoch eher ungern ins Französische. Häufig verständigt man sich daher auf Englisch.

Leider findet der Unterricht überwiegend frontal statt. Während der Lehrer referiert, machen sich die Schüler Notizen.

Gleich vom ersten Tag an waren meine Klassenkameraden sehr freundlich und hilfsbereit. Auch hier waren sie anfangs etwas verhalten, bei genauerem Kennenlernen aber doch ganz nett. Der Klassengeist ist nicht so stark ausgeprägt, stattdessen hängt man eher in kleinen Grüppchen ab. Innerhalb derer steht man sich sehr nahe, daher ist es als Neuer zu Beginn etwas schwierig, sich zu integrieren. Hat man sich aber einmal hereingefunden, kann man sich aufeinander verlassen und macht viel zusammen. Generell haben Schweizer eher wenige, aber sehr gute Freunde, überwiegend pflegt man Bekanntschaften, mit denen man bei Gelegenheit plaudert, aber nicht mehr.

In Fribourg gibt es ein grosses Freizeitangebot

Neben der ganztägigen Schule, den vielen Hausaufgaben und Tests hat man unter der Woche nicht viel Freizeit. Nach der Schule findet nicht mehr viel statt, die meisten machen sich gleich auf den Heimweg, da sie ziemlich weit weg auf dem Land wohnen. Die Schule bietet nicht viele Aktivitäten an, Hobbies macht man meistens in Vereinen, besonders Sport oder Fitness. Skifahren ist weit verbreitet. Am Wochenende geht man oft aus und auf Parties, geht ins Kino, unternimmt etwas mit Freunden oder verbringt Zeit mit der Familie.

In Fribourg gibt es ein grosses Freizeitangebot, das aber wie in Deutschland hauptsächlich in Vereinen stattfindet. Da ich als Austauschschüler auch die Zeit habe, mache ich davon Gebrauch, um viele neue Sachen auszuprobieren. Eine Besonderheit an Fribourg ist, dass sich hier die Sprachgruppen mischen. Das heisst, es werden Aktivitäten in (Schweizer-) Deutsch und Französisch angeboten. Meistens wird aber eine Mischung aus beiden Sprachen und ggfs. Englisch gesprochen, was für mich mittlerweile ganz natürlich ist.

Ganz in diesem Sinne wirke ich im französischsprachigen Chor und im deutschsprachigen Theater mit. Ausserdem mache ich noch Leichtathletik und segle auf dem 20 km entfernten Neuchâteler See. Man macht in der Schweiz nicht viele Aktivitäten, entscheidet man sich jedoch für etwas, betreibt man das auch mit einem gewissen Ehrgeiz, und es wird nicht gern gesehen, wenn man mal fehlt. Da war ich dann manchmal in kniffligen Situationen.

Die Landschaft ist beeindruckend und vielfältig

Die Landschaft, für die die Schweiz ja so bekannt ist, ist in Wirklichkeit noch viel beeindruckender und vielfältiger. Einerseits gibt es natürlich die Hochalpen mit dem Matterhorn, dem Aletschgletscher, den berühmten Ski- und Kurorten wie Zermatt, Gstaad oder St. Moritz. Dann gibt es noch die Gegend um den Genfer See, an dessen Ufer Genf, Lausanne, Montreux und Vevey liegen und dessen mediterranes Flair immer noch den Jetset aus aller Welt anzieht. Nicht minder bekannt ist das Juragebirge mit seiner Uhrenindustrie. Nicht zu vergessen sind natürlich all die Städte in der Deutschschweiz wie Zürich, Basel, Luzern, Bern, St. Gallen,…diese Liste könnte man endlos fortsetzen. So reich und unterschiedlich ist die Schweiz.

Fast all diese Städte und Sehenswürdigkeiten sind von Fribourg aus innerhalb einer bis zwei Zugstunden erreichbar. Einen Tagesausflug zum CERN in Genf? Kein Problem! Dabei kann man sich absolut auf die öffentlichen Transportmittel verlassen, die sehr häufig und pünktlich fahren und fast jeden Winkel des Landes erreichen. Das einzige, das einem im wahrsten Sinne des Wortes einen Strich durch die Rechnung machen könnte, sind die Preise. Die Schweiz ist ohnehin schon teuer und durch einen Wechselkurs von 1:1 zahlt man durchaus das Zweifache der Preise in Deutschland. Das gilt insbesondere für Lebensmittel und Fahrkarten. Fairerweise muss man sagen, dass man auch für die Qualität zahlt.

Überall stösst man auf grosse Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft

Als ich in die Schweiz kam, waren meine Französischkenntnisse zwar fortgeschritten, aber doch eher bescheiden. Man macht aber enorme Fortschritte, weil man in permanentem Kontakt mit der Sprache ist. Des Weiteren sprechen die Romands, wie sich die französischsprachigen Schweizer nennen, wesentlich langsamer und verständlicher als ihr grosser Nachbar. Der Unterschied ist viel kleiner als der zwischen Schrift-/Hochdeutsch und Schweizerdeutsch. Schliesslich gibt es keine Alternative zum Französischen, obwohl die Romands durchaus des Englischen oder Deutschen mächtig sind, weil sie sich ihren Akzent nicht verzeihen. Im Gegenzug würden sie nie eine Bemerkung über deinen Akzent fallen lassen oder dich korrigieren, selbst wenn du noch so unmöglich sprichst. Das ist in erster Linie ermutigend, manchmal aber auch verunsichernd.

Daher würde ich die Schweizer als sehr rücksichtsvoll und gewissenhaft, aber auch genauso konsequent und empfindlich beschreiben. Überall stösst man auf grosse Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Die Verkäufer sind häufig zu nett für meinen Geschmack, man kann sorglos über einen Zebrastreifen gehen, man grüsst und verabschiedet sich vom Busfahrer,… Allerdings wird erwartet, dass man diese Freundlichkeit auch erwidert. Sonst ruft man ziemlich schnell verärgerte Reaktionen hervor. Besonders da bin ich das ein oder andere Mal mit der etwas direkteren deutschen Art angeeckt. Kennt man sich aber gut, können sie durchaus lebhaft sein. Auch das gehört zu den Schweizern. Es braucht eben alles seine Zeit.

Eine tief prägende Schweizer Eigenschaft ist zudem das Kantönlidenken. Weil dieses Land so unglaublich vielfältig ist, ist man sich untereinander häufig fremd. Die meisten politischen Entscheidungen werden regional getroffen. Das betrifft die Schweizerdeutschen und die Romands, wobei erstere eher konservativ, aber auch nachhaltiger, letztere mehr weltoffen sind, aber auch eher die Laissez-faire-Mentalität haben. Verständigungsprobleme sind unvermeidlich. Nicht minder bedeutsam sind häufig auch die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten, nicht der religiösen Auffassung, sondern der Mentalität wegen. Schliesslich darf man bei der heutigen Schweiz nicht vergessen, dass sie über Jahrhunderte lang ein landwirtschaftlich geprägtes Land war, was sich erst ab Anfang der 50er Jahre geändert hat. Somit denkt man eher auf kommunaler oder kantonaler Ebene. Der Rest ist schon mehr oder weniger Ausland. Man konzentriert sich auf seine Angelegenheiten, auf sein Umfeld, und macht seine Sache gut, aber dabei bleibt es dann auch.

Ich bin mutiger geworden

Während meiner Zeit hier bin ich vor allem viel offener geworden. Am Anfang fängst du mit Null an, und um dir etwas aufzubauen, kannst du nicht mit deinen alten Gewohnheiten weitermachen. Du musst zuhören und zuschauen, Verständnis dafür haben, dass Dinge anders gemacht werden als du es kennst. Ich glaube auch, ich bin mutiger geworden. weil ich die Möglichkeiten, die sich mir bieten, ergreifen, es mal ausprobieren musste, obwohl es mir auf den ersten Blick vielleicht nicht so sehr gefiel. Manchmal fällst du auf die Nase, doch dann stehst du wieder auf, schaust, was du falsch gemacht hast, und machst es nächstes Mal besser. Aber manchmal wagst du dich in etwas hinein, und es entwickelt sich etwas Wunderbares, das du nicht für möglich gehalten hättest, und es gibt dir so viel zurück und Zuversicht. Daher mein Rat an alle, die aufbrechen wollen: Traut euch was!

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