Emma, USA, 2015, Schuljahr im Ausland mit Daimler-Byrnes Stipendium:

Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass ich voller Vorfreude im Flieger auf dem Weg in ein fremdes Land saß. Jetzt, nach exakt einem Jahr, sitze ich wie gewohnt zu Hause, schreibe einen Abschussbericht, in dem ich über mein einzigartiges und unvergessliches Jahr berichte und frage mich, wo die Zeit hin ist. Ich bin sicher, andere Austauschschüler würden mir zustimmen, dass dieses eine Jahr viel zu schnell vergangen ist. Für mich war es eine Achterbahnfahrt der Gefühle: ich habe mich verändert, habe neue Leidenschaften und Interessen entdeckt, Freunde fürs Leben und eine zweite Familie gefunden, die ich niemals vergessen werde.

Wenn ich auf das vergangene Jahr zurückblicke, gehen mir viele wundervolle Momente durch den Kopf. Viele dieser Erlebnisse habe ich mit meiner Kamera festgehalten, damit ich mich auch Jahre später noch daran zurückerinnern kann. Andererseits habe ich die Fotos auch für meine Familie und Freunde in Deutschland gemacht. Auch wenn sie in bestimmten Situationen nicht dabei waren, können die Bilder ihnen veranschaulichen, welche einzigartigen Momente ich in den Vereinigten Staaten erlebt habe. Aber was wäre, wenn ich keinen Fotoapparat dabei gehabt hätte? Welche Bilder hätte ich anderen beschrieben? Und wie hätte ich sie beschrieben?

Bilder, die sich mir ins Gedächtnis gebrannt haben

Auf jeden Fall hätte ich die atemberaubenden Familienfeste mit meiner amerikanischen Gastfamilie sehr detailliert beschrieben, zum Beispiel, wie wir an Thanksgiving zu dreiundzwanzigst mit übervollen Tellern im gemütlichen Wintergarten saßen. Der lange Tisch war mit roten Tischdecken und Blättern geschmückt. Hinter uns ging die Sonne unter. Ich hätte von dem großen saftigen Truthahn erzählt, der genau in der Mitte des Tisches stand, umringt von unzähligen anderen typisch amerikanischen Mahlzeiten wie dem dampfenden goldbraunen Cornbread, den mit Käse überbackenen Maccaroni, den Grits und vielem mehr.

Ich hätte von unserem geschmückten Haus an Heiligabend erzählt, für das sich meine Gastmutter so viel Mühe gegeben hat. Von der Straße aus sah man, dass an jedem Fenster des Hauses ein Adventskranz mit einer roten Schleife befestigt war. An der Haustür hing eine Lichterkette mit vielen kleinen bunten Lichtern. Hinter der Tür fiel der Blick direkt auf die mit Tannennadeln verzierte Treppe, die zu den Schlafzimmern führte. Links befand sich das Klavier, mit kleinen roten Kerzen drauf. Neben dem Klavier stand der überwältigende Weihnachtsbaum, der in einem bestimmten Schema mit weißen und goldenen Ornamenten verziert war und mit seinen Lichtern das Wohnzimmer erhellte. Das Feuer im Kamin brachte ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit in den Raum und die mit Liebe verpackten Geschenke unter dem Baum warteten darauf, dass sie jemand öffnete.

Natürlich hätte ich auch von meiner riesigen Schule erzählt, in der sich jeden Tag der Woche ungefähr 1.500 Schüler an den blauen Schließfächern vorbei durch die Gänge schleusten. Jedes Klassenzimmer war vom Grundriss zwar gleich, hatte aber eine dem Lehrer entsprechende Dekoration. Meine Lieblingslehrerin unterrichtete amerikanische Geschichte und hatte ein beeindruckendes und gleichzeitig das wahrscheinlich chaotischste Klassenzimmer, das ich je gesehen habe. Eine Wand war komplett bedeckt mit Autokennzeichen aus jedem einzelnen Staat der USA. Sie waren in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet und furchtbar verrostet. Meine Lehrerin sagte, es habe mindestens zwei Jahre gedauert, bis sie die Sammlung vollständig hatte. An einer anderen Wand hing eine riesige Landkarte mit unfassbar vielen Stecknadeln und Klebezettelchen drauf. Auf manche Länder der Karte, die wir im Unterricht behandelten, hatte sie mit schwarzem Edding gekritzelt, um die Wichtigkeit des Ortes zu kennzeichnen. Ich glaube, es ist nicht nötig zu erwähnen, dass man auf dieser Karte so gut wie nichts mehr erkennen konnte. Auf dem Bücherregal, wo große rote Geschichtsbücher ihren Platz hatten, standen kleine Actionfiguren von Batman und Superman, aber auch eine Plastikbüste von Obama und eine kleine Skulptur von „Rosie the Riveter“. Neben dem riesig großen Fenster hing eine noch größere, alte, fleckige amerikanische Flagge mit nur 48 Sternen darauf, so alt war sie.

Unterschiede zu Deutschland

Neben den vielen Bildern und Erlebnissen während meines Auslandsjahr in den USA sind mir natürlich Unterschiede zwischen meinem Heimatland und meiner neuen Umgebung aufgefallen. In meinem Wohnort Dunwoody, einem Vorort von Atlanta, hatte ich das Gefühl, dass Menschen viel lockerer und netter waren als in Stuttgart. Jeder sagte zu jedem Hallo und fragte, wie es einem ging. Ob man Smalltalk mit jemandem führte oder sich einfach nur gegenseitig anlächelte, der Tag war sofort gerettet.

Auch das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern ist in Amerika ganz anders. In den USA sind Lehrer wie Freunde. Jeder Schüler kann problemlos mit Fragen oder einem Problem zu einem beliebigen Lehrer gehen und mit großer Wahrscheinlichkeit wird der Lehrer sich außerhalb seiner Unterrichtszeit mit dem Schüler zusammensetzen, um eine Lösung zu finden. Die Lehrer fragen ihre Schüler jeden Tag, wie es ihnen geht oder was sie die Woche über erlebt haben. Sie machen kreative Spiele mit ihnen, die die Klassengemeinschaft stärken, und gehen von selbst auf einen Schüler zu, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Man könnte meinen, dass diese enge Beziehung zwischen Lehrern und Schülern kontraproduktiv für den Unterricht sei, da Schüler den Respekt vor der Autorität verlieren könnten, aber das stimmt nicht. Im Gegenteil, Schüler haben Spaß am Unterricht und sind animiert mitzumachen. In der Schule herrschte ein starkes Gemeinschaftsgefühls und es war toll, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein.

Auf einem Vorbereitungswochenende von AFS wurde erwähnt, dass man zuhause alles durch eine gelbe Brille sehe. Während des Auslandsjahres sehe man jedoch alles in einem neuen Blickwinkel: durch eine blaue Brille. Wenn man nun nach einem Jahr wieder nach Hause zurückkehrt und das gewohnte Umfeld betrachtet, werde man schnell merken, dass man jetzt durch eine grüne Brille blicke, da sich die alten Ansichten mit den neu gewonnenen vermischen. Das habe ich, als es uns erklärt wurde, nicht ganz nachvollziehen können. Doch jetzt wo ich es erlebe, ist es wirklich wahr. Ich ertappe mich zum Beispiel dabei, wie ich Fremde auf der Straße grüße oder plötzlich anfange aus heiterem Himmel Englisch zu reden, obwohl ich mit deutschen Freunden spreche. Ich merke, dass ich mich nach dem Zurückkommen an mein altes Umfeld gewöhnen und es teilweise neu kennenlernen muss. Das ist aber nicht unbedingt schlecht. Es schadet nicht, etwas früher Hingenommenes jetzt in Frage zu stellen oder alte Interessen gegen Neue einzutauschen. Ich glaube, genau das zeigt, dass man sich im Ausland weiterentwickelt hat und es fühlt sich gut an, das zu erleben.

Dankeschön an Stipendiengeber und Rat an zukünftige Afser

Das vergangene Jahr war ein unvergesslicher Lebensabschnitt, den ich um keinen Preis der Welt eintauschen würde. Das habe ich vor allem den Stipendiengebern zu verdanken, die mir dieses wahnsinnig große Abenteuer ermöglicht haben: AFS Interkulturelle Begegnungen e.V., DAZ/James F. Byrnes Institut, Andreas STIHL AG & Co. KG, Daimler AG und IHK Region Stuttgart Vielen herzlichen Dank dafür, dass ich als eine von fünf Stipendiaten die Möglichkeit hatte, zehn Monate in den Vereinigten Staaten von Amerika zu verbringen. Es war mir eine große Ehre und ich kann es immer noch nicht fassen, dass es jetzt schon vorbei ist. Dank Ihnen bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin.

An dieser Stelle möchte ich einen Rat an zukünftige AFSer weitergeben: Jeder Austauschschüler hat ein einzigartiges Jahr und keines gleicht dem anderen. Seid also nicht verzweifelt, wenn Euer Auslandsjahr nicht dem gleicht, über das Ihr in Berichten gelesen oder von dem Ihr in Videos gesehen habt. Auch Euer Jahr im Ausland wird wunderbar werden, wenn Ihr Euch auf Euch selbst verlasst und das Beste aus jeder Situation macht. Ihr werdet sehen, dass sich alles Schöne ergibt, wenn Ihr es nicht erzwingt.  Ich werde mich auf jeden Fall noch sehr lange an mein fantastisches Jahr zurückerinnern und mein zweites Zuhause so oft wie möglich besuchen.

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