Kira, Russland, 2017, Schuljahr im Ausland mit Mittelosteuropa-Sprachstipendium:

Bevor ich nach Russland kam, habe ich versucht, ohne große Erwartungen herzukommen, und mir ein komplett neues Bild von Russland zu machen, basierend auf meinen eigenen Eindrücken. Das erste was ich festgestellt habe war, dass Russland gar nicht so anders ist als Deutschland, zumindest, was das Äußere angeht. Die Straßen sind etwas schlechter, die Leute fahren anders Auto, das sind die Sachen, die mir direkt nach der Ankunft am Bahnhof von Izhevsk aufgefallen sind. Danach folgten ein paar ruhige Wochen vor dem ersten Schultag, in denen ich Zeit zum eingewöhnen hatte. In der ersten Zeit war es noch ein wenig seltsam, dass ich von dem, was in meiner Umgebung gesprochen wurde, nur einzelne Wörter verstand, aber daran gewöhnte ich mich schnell.

Kulturelle Unterschiede in Schule und Familie

Als dann nach ein paar Wochen die Schule begann, war ich ein wenig verwundert darüber, wie die Schüler mit den Lehrern umgehen. Auch die generelle Einstellung in der Schule in Russland schien komplett anders als das, was ich gewöhnt war. Handys dürfen benutzt werden, die Schüler reden ständig und wenn der Lehrer etwas sagt, wird mit ihm darüber diskutiert. Alles Dinge, die in meiner Schule in Deutschland absolut undenkbar sind. Mit der Zeit habe ich mich jedoch daran gewöhnt, und jetzt nehme ich es gar nicht mehr so stark wahr.

Auch habe ich mittlerweile kulturelle Unterschiede entdeckt, und da gibt es tatsaechlich einige, besonders im Familienleben. Während in Deutschland Familie zwar wichtig ist, ist man doch relativ schnell selbstständig und führt ein eigenes Leben. In Russland dagegen ist man viel enger und viele Erwachsene leben bei ihren Eltern bis sie einen Partner finden und mit ihm oder ihr in eine Wohnung ziehen. Auch die Jugendlichen in unserem Alter sind viel weniger rebellisch und mehr familiengebunden.

Verschiedene Sichtweisen

Einige Dinge, die mir andere erzählt hatten, bevor ich nach Russland gekommen bin, haben sich als wahr herausgestellt, während andere absolut nicht stimmen. Man hatte mich zum Beispiel davor gewarnt, mit den Russen über Politik zu sprechen, da das schnell ausarten kann, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass mir alle sehr gerne zuhören und auch verstehen, dass ich aus Europa komme und dadurch eine andere Sicht auf die Dinge habe. Auch wurde ich gewarnt, dass die meisten Russen sehr patriotisch oder ausländerfeindlich sind. Auch das trifft auf die Leute in meinem Umfeld absolut nicht zu. Eher im Gegenteil, sobald jemand hört, dass ich aus Deutschland komme, bekomme ich sofort jede Menge Fragen gestellt, und jeder, der etwas auf Deutsch sagen kann, präsentiert mir seine Kenntnisse. Am Anfang war es etwas seltsam, dass die Leute alle so interessiert waren, und dann nach einiger Zeit war es ein wenig nervig, immer wieder dieselben Fragen zu beantworten, vor allem weil einige Leute entweder so schnell und unverständlich sprechen, dass ich jede Frage dreimal nachfragen musste, um etwas zu verstehen, oder, das andere Extrem, sie versuchen die Sätze auf Englisch zusammenzusetzen. In der Zwischenzeit stört es mich jedoch nicht mehr, selbst wenn ich dreimal nachfragen oder die Leute bitten muss, langsam und deutlich zu sprechen.

Google Übersetzer – braucht keiner mehr

Auch in meinem Russisch merke ich bereits deutliche Unterschiede. Am Anfang habe ich sehr viel auf Englisch gesprochen, da ich relativ wenig auf Russisch sagen konnte und Angst hatte, einen Fehler beim Sprechen zu machen. Nach dem ersten Monat hatte sich mein Fähigkeit, zu sprechen, bereits sehr gebessert und mittlerweile war es mir auch egal, ob ich Fehler machte. Und dadurch, dass ich einfach sprach, wurde es auch immer einfacher zu verstehen, was die anderen sagten. Ich hatte mich bereits daran gewöhnt, nur etwas zu verstehen, wenn ich angestrengt zuhöre und den Satz mühsam übersetze, aber mit jeder Woche wurde es einfacher und Anfang Oktober saß bereits keiner mehr mit einem Englisch Wörterbuch oder Google Übersetzer da, wenn er sich mit mir unterhalten wollte. Auch das Familienleben wurde schnell zu einer angenehmen Normalität. Hier habe ich den Luxus, dass sowohl meine Gastmutter als auch meine Gastschwester relativ gut Englisch sprechen, und wenn ich ein Wort nicht weiß, kann ich einfach nachfragen. Dadurch habe ich die für den Alltag benötigten Vokabeln schnell gelernt und verinnerlicht.

Ich möchte mich dafür revanchieren, dass ich ein Jahr bei meiner Gastfamilie wohnen darf

In meiner Familie in Deutschland läuft einiges anders, als hier in Russland, deshalb gab es in der Tat einige Sachen, in denen ich mich umstellen musste, das war aber nicht schlimm oder schwer und ich hatte es natürlich auch erwartet. Im Gegensatz zu Deutschland wird hier mehr in der Familie gemacht, was gleichzeitig schön und anstrengend sein kann, besonders wenn man es nicht so gewöhnt ist. Auch die Sache mit der Privatsphäre ist ein schwieriges Thema. Mein Verhalten hat sich gegenüber meinem Verhalten in Deutschland ein wenig verändert. Da ich mich natürlich gerne dafür revanchieren möchte, dass meine Gastfamilie mich ein Jahr bei sich wohnen lässt und mich in ihre Familie aufnimmt, helfe ich mehr mit, als in Deutschland, und tue es auch gerne und ohne Protest. Außerdem treffe ich mich seltener mit Freunden und bin mehr zu Hause, als das in Deutschland der Fall war. Nicht schwer daraus zu schließen, dass mir das Familienleben in Russland besonders gut gefällt, was aber nicht heißen soll, dass ich mit den Jugendlichen in der Schule nicht klarkomme oder kein Interesse an ihnen habe.

Positive und negative Erlebnisse in Russland

Schwierig ist für mich die Schule. Da ich genau wie alle anderen Noten bekomme, muss ich in jedem Fach Aufgaben erledigen. Meist sind das Extraaufgaben, kleine Projekte oder Referate oder Aufgaben, die für jüngere gedacht sind. In einigen Fächern wird es jedoch auch von mir erwartet, ganz normal dem Unterricht zu folgen. Und da ich immer noch nicht alles verstehe, was gesagt wird, muss ich mir das Unterrichtsmaterial aus halb verstandenen Sätzen, Beispielaufgaben oder dem, was meine Freunde mir erklären, erschließen. Bei einem sieben Stunden Tag ist das ganz schön anstrengend. Und wenn man dann noch nicht mal die Note dafür bekommt, die man erwartet hatte, kann das auch ganz schön frustrierend sein!

Negative Erlebnisse hatte ich bisher relativ wenige. Einmal wurde ich vorgestellt mit „Das ist Kira aus Deutschland“ und von meinem Gegenüber beschimpft, aber ansonsten ist mir zum Glück nichts dergleichen passiert. Was das Positive angeht, da gibt es einige Sachen, die mir bestimmt im Gedächtnis bleiben werden. Die Male, die wir im Theater waren zum Beispiel, oder Neujahr haben mir sehr gut gefallen. Oder als die Hockeymannschaft meines Bruders bei uns zu Besuch war und ich mich mit einem sehr netten jungen Vater unterhalten konnte, der selber sehr viel reist. Die Liste geht noch lange weiter und bei einigen Sachen ist es für andere vielleicht unverständlich, warum sie mir so gut gefallen haben, aber wenn man in einem fremden Land ist, umgeben von Leuten und einer Sprache, die man kaum kennt, hat man einen ganz anderen Blick auf viele Dinge.

„Spazieren gehen“ – aber es ist so viel mehr als das

Etwas, was ich nie müde werde zu erzählen, und was ich bestimmt auch jedem in Deutschland erzählen werde, wenn ich wieder zurückkomme, ist die Sache mit den Handys in der Schule. Das hatte ich wirklich nicht erwartet in Russland, da man mir vorher erzählt hatte, dass die Schule hier sehr ernst und wichtig genommen wird. In Russland ist alles, was in Europa passiert, interessant. Autos, Handys, Trends etc. Von dem, was ich mitbekommen habe, sind viele nicht so wirklich zufrieden mit Russland und ich werde oft gefragt, warum ich ausgerechnet nach Russland wollte, wenn ich in jedes andere Land hätte gehen können.

In der russischen Sprache gibt es ein Verb, das von den Jugendlichen für so ziemlich alles benutzt wird, was sie machen. Wörtlich übersetzt heißt es so etwas wie „spazieren gehen“, aber es ist so viel mehr als das. Wenn man sich treffen will, geht man „spazieren“, meistens weiß man noch nicht, was man überhaupt machen möchte. Auch Dates oder shoppen gehen, schlichtweg alles, was man nach der Schule mit Freunden zusammen macht, heißt „spazieren gehen“. Wie bereits gesagt, „in“ ist so ziemlich alles, was in Europa „in“ ist, mit Ausnahme bei der Musik, da gibt es eine Mischung aus Russischen und meist Englischen Liedern. Hobby kann so ziemlich alles sein. Musikalisches, Sportliches oder anderes, es spielt keine Rolle. Viele der Jugendlichen haben entweder sehr viele Hobbys, oder, meist in den letzten drei Schuljahren, gar keine Hobbys, da die Prüfungen alle Zeit einnehmen, die man frei hat. Das kommt jedoch auch auf die Art der Schule an und darauf, wie leicht es einem fällt, sich selbständig Unterrichtsstoff zu erschließen.

Ein Leben in einem Jahr

Zukünftigen AFSern kann ich nur sagen, ihr habt die richtige Entscheidung getroffen, wenn ihr euch bereits für ein Auslandsjahr entschieden habt! Wenn nicht, kann ich euch nur empfehlen, es zu machen, denn egal aus welchen Gründen ihr ursprünglich egal wohin geht, es wird auf jeden Fall in allem eine tolle Erfahrung werden. Ich bin zum Beispiel hauptsächlich hergekommen, um die Sprache zu lernen, aber jetzt merke ich, dass das nur ein ganz kleiner Teil vom Gesamtpaket ist. Als ich noch in Deutschland war, habe ich einmal den Spruch gehört „Ein Auslandsjahr ist kein Jahr in einem Leben, es ist ein Leben in einem Jahr“. Damals dachte ich, dass das ein ziemlich kitschiger Spruch ist, aber inzwischen kann ich dem nur zustimmen!

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